Von Lucia Udvardyova
Vier Menschen stehen still auf dem Vorsprung eines Gebäudes im Zentrum von Budapest, ihre Posen zeugen von in ihrer Gelassenheit und stillen Entschlossenheit (ihre Gesichter sind mit Masken bedeckt, da all dies während einer globalen Pandemie geschieht). Das Gebäude ist mit zahlreichen handgeschriebenen Bannern geschmückt: ein großes hinter dem Rücken sagt: „Kiálunk az egyetemünk szabadságáért (Wir stehen auf für die Freiheit unserer Universität) #freeszfe“. Der Hashtag #freeszfe, abgeleitet vom Akronym der Universität für Theater und Filmkunst Budapest („Színház- és Filmművészeti Egyetem“, SZFE), tauchte in den zurückliegenden Wochen zunehmend an Bürgersteigen, Wänden und maßgeschneiderten gelben Masken in der Stadt auf.
Internationale Unterstützung
Hollywoodstars und mehrere Kultur- und Literaturpersönlichkeiten, darunter Salman Rushdie, Cate Blanchett und viele andere, haben Selfies mit erhobener Hand und dem #freeszfe Hashtag auf ihren Handflächen gepostet. Am 23. Oktober, dem Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956, zogen rund 30.000 Demonstranten schweigend durch die Straßen von Budapest, um #freeszfe zu unterstützen, und borgten sich den Slogan – Szabad ország, szabad egyetem – Freies Land, freie Universität – von den Protesten gegen die Bildungsreform im Jahr 2012. In der Folge war dieser Slogan bereits bei den Protesten der Lehrer:innen und den Protesten zur Unterstützung der Central European University (CEU), die inzwischen nach Wien umgezogen ist, aufgetaucht.
Worum es bei dem Konflikt geht
Die Geschichte der SZFE reicht bis ins Jahr 1865 zurück. Es ist damit Ungarns älteste Institution für akademische Kunstausbildung, sie verfügt über zahlreiche mit illustren Karrieren, wie etwa Oscar-Preisträger Vilmos Zsigmond und Géza Röhrig sowie ikonische Regisseure wie Béla Tarr. Anfang Juli dieses Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, durch das die Universität in einer private Stiftung überführt wurde. Damit einher ging eine neue Leitung, die das Ministerium bestimmte. Dieser Strukturwandel hat bereits an anderen ungarischen Universitäten stattgefunden, und die künstlerischen Universitäten sollen ihn ab Januar 2021 umsetzen. Im Fall der SZFE wurde dies auf September 2020 verschoben.
Máté Gáspár, ehemaliger Abteilungsleiter und Tutor, war einer der ersten, der im Zuge dieser Veränderungen aus der SZFE zurücktrat:
„Anstatt sich vorzustellen und den Dialog aufzunehmen, hat dieser Vorstand im August die Universitätscharta sowie die organisatorischen und operativen Regeln ohne vorherige Absprache neu geschrieben. Der Stiftungsrat, das höchste Entscheidungsgremium, und der Universitätssenat (der alle Universitätsbürger:innen vertrat), wurde vom neuen Gremium übernommen, ohne Universitätsvertreter:innen einzubeziehen. Daraufhin trat die gesamte bisherige Leitung der Universität zurück und die Student:innen starteten eine Blockade. Dieser Streit dauert seit dem 1. September an.“
Der neue Vorstandsvorsitzende ist der Leiter des Nationaltheaters Attila Vidnyénszky, der den ehemaligen Armeeoffizier Gébor Szarka zum Kanzler ernannt hat. Diesem Gremium gehören nicht nur Mitglieder aus der Film- und Theaterwelt, sondern auch hochrangige Vertreter der Ölindustrie. „Es ist ein unglaubliches politisches Spiel vom ersten Moment an“, sagte Vidnyénszky in einem Interview mit Origo.hu und behauptete, Amnesty International helfe offenbar der Studentenblockade. Später behauptete er in einer Online-Diskussion, der vom Ausschuss für Kultur und Bildung des Europäischen Parlaments organisiert wurde, dass linke politische Parteien sie anheizten. In einem weiteren Interview erwähnte er, dass er Themen wie „Nation, Heimat und Christentum“ in den Lehrplan der Universität aufnehmen möchte. Diese Themen wurden auch im Nationaltheater unter seiner Führung proklamiert und sind als solche mehr oder weniger im Einklang mit Orbans illiberaler oder in letzter Zeit „christlicher Demokratie“.
Das Innenleben der Blockade
Student:innen besetzen das Universitätsgebäude an der Vas-Straße in der Budapester Innenstadt, bis die neuen Beschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie sie dazu zwangen, ihre Blockade ins Internet zu verlegen. Sie haben ein komplexes System des Aufgabenmanagements entwickelt, Diskussionsforen, die im besetzten Gebäude sowie in anderen Institutionen abgehalten werden. „Es gibt ständige Wachen und Solidaritätswächter:innen, die sich aus ehemaligen Schüler:innn und Lehrer:innen sowie Vertreter:innn anderer Institutionen zusammensetzen, die 30-minütige Wachschichten auf dem Dach des Gebäudes an der Vas-Straße halten“, sagt Bálint Antal, der im fünften Jahr Theater-Regie an der SZFE studiert.
„Es gibt einen Zeitplan für jeden Tag, und im Inneren gibt es eine richtige Wache, die die Mitglieder des neuen Vorstandes daran hindert, die Schule zu betreten. Am Eingang messen wir die Temperatur aller, die das Gebäude betreten, und nutzen andere Desinfektionsmethoden. Drinnen gibt es jeden Abend Foren, manchmal sind es rein studentische, manchmal dürfen auch Lehrer:innen und andere Universitätsmitarbeiter:innen teilenhmen Wir diskutieren dann, wie es ohne Chaos und Anarchie weitergehen kann. Daneben gibt es auch Arbeitsgruppen, die die Universitätsblockade organisieren, aber es gibt auch eine „hygienische Arbeitsgruppe“, die für die Desinfektion zuständig ist; es gibt zum Beispiel eine Lagerarbeitsgruppe, die sich um das Lagern von Spenden kümmert und, wenn wir zu viele haben, geben wir sie weiter.“
Die Akademische Republik
Es hat sich ein autonomes akademisches System entwickelt (in diesem Zusammenhang oft auch tanköztársaság genannt, was so viel wie „akademische Republik“ bedeutet). „Es gibt eine Arbeitsgruppe Kommunikation, ein internes Dokumentationsteam: Es gibt wahrscheinlich mehr als 100 solcher Arbeitsgruppen. Darüber hinaus findet der Unterricht statt, soweit es die Verlauf der Pandemie zulässt. Es gibt Kurse, die nicht betroffen sind – trotz aller Untergrabung durch die neu ernannte Führung – wir können andere Kurse in Aktivitäten rund um die Universitätsblockade integrieren, aber es gibt auch Online-Kurse. Die Organisation eines 15.000-Personen-Protestes erfordert oft ähnliche organisatorische Fähigkeiten wie die Inszenierung einer Aufführung (eine Chorprobe könnte sich beispielsweise auf die Lieder konzentrieren, die dann bei den Blockade-Aktivitäten aufgeführt werden, Schauspieler lernen, komplexe Pressemitteilungen zu verfassen,die siedann an die Öffentlichkeit kommunizieren). Zwischen der Hochschulbesetzung und dem Unterricht hat sich eine Art Kooperation entwickelt. Wir haben auch Kurse ins Leben gerufen, an denen Student:innen aus anderen Bereichen teilnehmen können: Theaterstudent:innen können Filmkurse besuchen und umgekehrt – das war ein alter Traum von uns.“
Jeder Tag hat eine Agenda, die Aktivitäten, Kurse, Diskussionen, Pressekonferenzen, Foren an diesem Tag umfasst. Der Tag beginnt um 10 Uhr und endet um 2 oder 3 Uhr morgens. Student:innen haben einen Film über die Geschehnisse gedreht.
Freie Universität
Als die Übergabe der Universitätsleitung am 30. September näher rückte, nahmen die Spannungen zwischen den Blockadestudent:innen und dem neuen Vorstand zu. Am 30. September versammelten sich Hunderte vor dem Gebäude, um die Studierendengemeinschaft zu unterstützen. Die Pattsituation setzte sich auch nach dem offiziellen Amtsantritt des neuen Gremiums fort – der Kanzler versuchte immer wieder vergeblich, das Gebäude zu betreten. Das Internet wurde auf mehreren Campussen der Universität abgeschaltet und das Schloss der Ódry-Bühne, auf der die Diskussionsforen stattfanden, wurde ausgetauscht. Am 16. Oktober wurden alle aufgefordert, das Gebäude zu verlassen und das Wohnheim zu räumen. Die Student:innen weigerten sich, das Gebäude zu verlassen, da die Maßnahmen nicht nur illegitim, sondern auch illegal seien. Sie kündigten eine Demonstration am 23. Oktober an, dem Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 (die hatte ebenfalls als Student:innendemonstration begonnen). „Wir wollen eine freie, autonome Universitätsgemeinschaft schaffen, in der niemand seine oder ihre Meinung der anderen Seite aufzwingt, wo wir von niemandem ein Opfer erwarten und es auch nicht verbieten. Wenn alles so bliebe, wie es ist, wären wir glücklich. Das wird natürlich nicht passieren. Auf die eine oder andere Weise, illegal oder gedeckt von Gesetzen, werden sie eingreifen.“
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Ich bekunde meine Solidarität mit den SZFE-Student:innen und -Lehrer:innen. Dieses Thema zieht sich nun schon über mehrere Wochen. Ich habe größten Respekt vor den Student:innen, die gesagt haben, dass sie nicht bereit sind, das neue akademische Jahr auf diese Weise zu beginnen, weil sie das Leitungsorgan ablehnen, das ihnen aufgezwungen wurde. Ich glaube, dass effektive Bildung funktionieren kann, wenn die Lehrer:innen Freiheit üben können und unterrichten und arbeiten dürfen, wie sie möchten. Die Regierung zentralisiert alles und entscheidet, was gelehrt werden soll, welche Bücher verwendet werden sollen, und das ist nicht in Ordnung. Es ist notwendig, sich dagegen zu wehren, und deshalb geschieht dies auch heute.
Eine Welle der Solidarität
Máté Gáspár hebt eine andere Perspektive hervor. Máté Gáspár hebt eine andere Perspektive hervor. „Es gibt eine junge Generation, die nicht nur ausdrücken kann, was sie nicht will, sondern auch sagt, was sie will. Indem sie jeden Tag zeigt, wie sie es will, auf demokratischer Basis, mit Respekt und Empathie gegenüber jedem Community-Mitglied, mit ausführlichen Diskussionen, Foren und Kreativität, während sie die Öffentlichkeit informiert und einbezieht, eine Plattform dafür bietet, und viele schließen sich ihnen an. Das hat eine beispiellose Welle der Solidarität ausgelöst. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie aus verschiedenen Gründen beitreten wollen, sei es beruflich, generationenübergreifend, gesellschaftlich oder politisch“, sagt Gáspár, der sich neben akademischen Arbeit auch für NGOs in diesem Bereich engagiert. Er leitet eine Stiftung, die sich auf den Kapazitätsaufbau von Roma-Führer:innen konzentriert. „Was jetzt mit Gábor Iványi, [dem Präsidenten der Ungarischen Evangelischen Gemeinschaft, die ihren Status und ihre Finanzierungsquellen verloren hat und weshalb ihre karitativen Aktivitäten – Obdachlosenunterkünfte und Schule – sind, hat diese beiden Welten zusammengeführt: Die schwächsten, Obdachlosen oder Roma sind nicht so weit von der Universitätsgemeinde entfernt, wie es scheinen mag. Diese Gemeinschaften können gemeinsam handeln, wenn es den Wunsch oder den Mut dazu gäbe.“
Am Freitag, den 23. Oktober, gingen Tausende von Menschen aus allen möglichen sozialen Schichten und Generationen schweigend mit ihren Fackeln auf die Straßen von Budapest. Sie beendeten ihren Spaziergang in der Nähe der Universitätscampusse. Die FreeRomaGroup sang das Ej, a titkos egyetem (Die geheime Universität)-Lied, das zum klanglichen Symbol der Student:innenproteste geworden ist. Einen Tag vor dem Protest hat eine der Chefberaterinnen der Regierung, Zsuzsanna Gabriella Hegedüs, in einem überraschenden Schritt praktisch ihre Unterstützung für den Kampf der Student:innen für Autonomie zum Ausdruck gebracht. Auf der Bühne sprachen Vertreter:innen von Student:innen ebenso wie des ungarischen Gewerkschaftsbundes, der Lehrer:innengewerkschaft sowie des Gesundheitswesens, die gegen das Gesetz über den Beschäftigungsstatus von Arbeiter:innen im Gesundheitswesen protestierten. „Wir setzen uns für unsere Sache ein, aber wir verstehen uns nicht als eine Art Revolutionäre“, erklärt Antal. „Aber gleichzeitig, wenn alle für ihre Rechte kämpfen würden, könnte viel erreicht werden. Die Rechte vieler Menschen in Ungarn wurden verletzt. Viele Organisationen, Radios, Zeitungen, Universitäten, Forschungseinrichtungen sind betroffen. Es ist entscheidend, zu erkennen, dass das nicht gesund ist.“
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Wir sind bei Kodály körönd, bei der Versammlung der SZFE-Student:innen. Es ist völlig gerechtfertigt, da man einer Universität nicht die Autonomie nehmen kann. Es geht nicht darum, dass die Jugend gegen das System rebelliert. Sie will nur die Autonomie der Universität bewahren, und das ist es, was ihnen jetzt genommen wird, und das ist schrecklich. Ich bin Rentnerin, aber Hut ab. Was sie tun, ist fantastisch, und es erstaunlich, dass sie den Mut haben, das zu tun. Es ist unglaublich schön. Ich bin nicht die Jüngste, aber von meinen Altersgenoss:innen steht jeder hinter ihnen. Ich habe niemanden getroffen, der nicht sagen würde, es sei ein Wunder, was diese Kinder tun, junge Erwachsene eigentlich, die wissen, was sie tun. Auch Viktor Orbén war in diesem Alter, als er aufstand und sich zu Wort meldete.
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Ich bin Rentner, ein ehemaliger Lehrer, sagen wir: Teil der Kultur. SZFE ist derzeit eine der letzten Bastionen der Kultur, und deshalb habe ich das Gefühl, dass ich sie unterstützen muss. Wir sind vom ersten Tag an hierher gekommen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich jeden Tag hier sein muss. Nun gab mir ein Freund von mir, der anonym bleiben möchte, 100.000 Forint (~275 Euro), die ich für eine gute Sache ausgeben sollte, und wir dachten beide, es für diese besondere Sache zu verwenden. Ich versuche, es effektiv zu nutzen. Jeden Tag gibt es eine Liste von Gegenständen, die von Student:innen benötigt werden, die ihre Unabhängigkeit schützen. Ich bin froh, dass es einen Ort gibt, der bereit ist, einem solch brutalen politischen Druck standzuhalten. Etwas aus der Vergangenheit ist unter neuem Gewand zurückgekehrt. Die Politik hat mit jedem Mittel (Verbot oder Zerstörung von Literatur usw.) ihre Hand auf die Kultur gelegt. Leider waren diese ehemaligen osteuropäischen Staaten nicht in der Lage, die Freiheit zu schätzen und zu erkennen, dass Freiheit eine große Chance ist, die wir nach 1989 bekommen haben. Es scheint, als würden sie sich nach einer Diktatur sehnen, und diese hässliche Diktatur wurde zurückgeschmuggelt. Ich habe nicht mehr viel zu verlieren, sondern diese Kinder, und sie haben eine Zukunft zu ändern oder zu gewinnen, sodass sie in einem freien Land leben können. Wir konnten schon einmal lange Zeit nicht in einem freien Land leben bis zum Fall des Eisernen Vorhangs und es hat nicht viel Spaß gemacht. Wir dachten nicht, dass es etwas Schlimmeres geben würde. Vor dreißig Jahren dachten wir, wir wären es losgeworden und wir hätten kulturelle, gedankliche, religiöse Freiheit, aber es ist nicht der Fall, es gibt immer weniger davon.
Anfang November hatten die Student:innen die Universität bereits mehr als 60 Tage lang besetzt. Während das Schicksal ihres Wintersemesters in der Luft hängt (der neue Vorstand hat den Unterricht bis Anfang Februar ausgesetzt, unter Berufung auf die Unmöglichkeit, das Gebäude zu betreten und das ordnungsgemäße Funktionieren der Einrichtungen und der Bildung zu überprüfen), haben die Student:innen den Minister für Innovation und Technologie, László Palkovics, zu einem Treffen am 11. November auf den Campus der Vas-Straße eingeladen. Er lehnte ab. Am 10. November gaben die Student:innen bekannt, dass sie den Campus verlassen würden – als Reaktion auf die neuen staatlichen Beschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie. Sie verlegten ihre Kurse ins Internet. „Wir werden die Blockade nicht aufgeben, wir werden sie mitnehmen. Wir sind die Universität. Die Blockade wird so lange andauern, bis die Unterdrückung der Machthaber:innen aufhört.“