Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Alternative zu Corona-Soforthilfen?
Mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) sicher durch die Krise? Expert:innen erklären, was sie von der Idee halten.

Text: Lena Reiner und Niklas Golitschek

Soforthilfen, Kurzarbeitsgeld, Grundsicherung – die Coronavirus-Pandemie hat den deutschen Sozialstaat im Jahr 2020 vor eine harte Probe gestellt. Die unterschiedlichen Programme mit ihren unübersichtlichen Anforderungen und bürokratischen Hürden haben einer alten Idee neuen Aufwind verschafft: dem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE).

Hohe Zustimmung für BGE

In einer Umfrage des Meinungsbarometers für Mitteldeutschland, mdrFRAGT, sprach sich von den rund 15.000 Teilnehmer:innen aus den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mehr als die Hälfte (55 Prozent) für ein BGE aus. Das deckt sich mit einer repräsentativen Umfrage von Splendid-Research aus dem Jahr 2017, in der die Zustimmung bei 58 Prozent gelegen hatte.

Prof. Dr. Karl Justus Bernhard Neumärker ist Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorien der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Er baut derzeit das Freiburger Institut für Grundeinkommensstudien (FRIBIS) auf und beschäftigt sich mit dem BGE. Im Frühjahr 2020 hat er ausführlich mit diesem Magazin über das Thema gesprochen.

Einführung auch in der Krise

Neumärker plädiert dafür, das BGE auch in der Krise einzuführen. Denn staatliche Hilfen, die eine Bedürftigkeit voraussetzen, seien nur bedingt effizient. „Alle verhalten sich strategisch“, sagt er über die Staatsgelder, die in Krisenzeiten besonders betroffenen Gruppen zugutekämen. Seien es die Rettungspakete für Banken ab dem Jahr 2008 oder Soforthilfen während der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020. „Das Grundeinkommen ist da ganz platt und hilft jedem“, sagt er.

Um die öffentlichen Kassen in unsicheren Zeiten nicht zu sehr zu belasten, hat sich Neumärker einen Mechanismus ausgedacht: Bei einer Wirtschaftskrise wird auch das Grundeinkommen reduziert, während es weiterhin seine Funktion zur Existenzsicherung erfüllt. Der Ökonom unterscheidet deshalb zwischen zwei Arten des BGE.

Netto- (oder: Krisen-)BGE

Das Krisen-BGE beträgt zwischen 500 und 700 Euro pro Bürger:in. Gleichzeitig werden Zinseinkünfte wie Mieten, Pachten oder Kredite eingefroren, bis die Krise überstanden ist. Weil auch Vermieter:innen, Bankangestellte und andere Betroffene das Krisen-BGE erhielten, seien sie dadurch nicht in ihrer Existenz bedroht. „Jede:r kann überleben“, bilanziert Neumärker. Leistungen wie Kurzarbeitergeld oder Kredithilfen seien dadurch hinfällig, ganz zu schweigen von Sozialhilfen. Was in vorherigen Krisen passierte, sei eine „gigantische Umverteilung hin zu Leuten, die leistungsloses Einkommen generieren“.

Brutto (oder: partizipatives) BGE
Das partizipative BGE sollte nach Neumärkers Schätzung zwischen 1000 und 1500 Euro pro Bürger:in liegen. „Nach der Krise fährt man alles wieder hoch“, führt Neumärker aus. Dabei müsse niemand neue Lasten etwa durch Kredithilfen auf sich nehmen. Vertraglichen Verpflichtungen könnten in dieser normalen Zeit wieder alle nachkommen. Partizipatives BGE nennt Neumärker dieses Modell auch deshalb, weil es mehr als bloß eine Existenzsicherung sein soll. Damit begründet er auch die höhere Summe. Nur so hätten sie die Möglichkeit, „über das Grundeinkommen halbwegs an unserer Gesellschaft partizipieren zu können“. Sei es nun ein Besuch im Theater oder im Fußballstadion – das sei frei wählbar.

Nachdem die Wirtschaft und das öffentliche Leben vielerorts zu Erliegen gekommen waren, sieht Neumärker nun die Chance für einen sozialpolitischen und umweltverträglichen Neustart. „Es gibt lauter neue Vorteile, die die Leute vorher nicht kannten in unserer hektischen Welt“, hat er beobachtet. Reduzierter Verkehrs- und Fluglärm, weniger Arbeitsstress, mehr Freizeit. Neben dem BGE spricht sich Neumärker deshalb auch dafür aus, bei diesem Neustart die Umweltziele einzuhalten oder sogar zu verbessern. In der Politik sieht er jedoch andere Tendenzen: „Es geht nur darum, das Bruttoinlandsprodukt auf das alte Niveau hochzufahren.“

Eine Machtverteilungsfrage

Skeptisch zeigen sich dabei gewiss nicht nur Politiker:innen. Arbeitgeber:innen und Gewerkschaften stünden einem BGE ebenso kritisch gegenüber. Weil sie Macht verlieren könnten, sagt Neumärker. Die Menschen hätten damit eine „erhöhte Selbstbestimmung und Zeitsouveränität. Das gefällt den Gegnern nicht“, schildert er. Letztlich gehe es um eine Machtverteilungsfrage.

Wie genau sich ein BGE finanzieren ließe, hat Neumärker allerdings noch nicht abschließend ausgearbeitet. Als Möglichkeiten nennt er, die Mehrwertsteuer oder die Einkommensteuer zu erhöhen. „Wir wissen: Man kann es finanzieren. Auch dauerhaft“, zieht er seine Erkenntnis aus den Milliardenprogrammen des Staates. In der Krise könne das Grundeinkommen sogar günstiger sein als die bisherigen Maßnahmen. „Es kostet uns vielleicht ein bisschen Wettbewerbsfähigkeit, dafür sind wir für die Krise wieder gewappnet“, sagt er. Hinzu komme, dass in normalen Zeiten Leistungen wie Arbeitslosengeld und Rente entfallen würden. Bekämen Kinder nur ein BGE von 500 Euro im Monat, würden die Gesamtkosten noch einmal sinken.

In Deutschland gebe es sogar schon eine Art Grundeinkommen, sagt Neumärker und verweist auf das Kindergeld. „Es ist ein Zuschuss, damit lässt sich ein Kind nicht ernähren“, merkt er an. Doch werde eben nicht geprüft, ob jemand das Kindergeld wirklich braucht. Ausschlaggebend sei nur, ob jemand Anspruch darauf habe. „Keine in der Gesellschaft beschwert sich, dass auch Reiche Kindergeld bekommen“, nennt er ein Beispiel. Es sei schlicht ein sogenannter „Nettostaatstransfer“.

BGE als Respektzahlung

Genau so könnte es seiner Einschätzung nach auch mit dem BGE laufen. „Das Grundeinkommen sollte eine individuelle Respektzahlung ab Geburt bis zum Tod sein“, beschreibt er. Anspruchsberechtigt sei jede:r Bürger:in des Staates. Um einer möglicherweise befürchteten Masseneinwanderung entgegenzuwirken, ließen sich zusätzliche Kriterien definieren: Beispielsweise, dass die Bürger:innen mindestens fünf Jahre in Deutschland gelebt haben. „Das ist teilweise diskriminierend, aber da kann man Möglichkeiten schaffen“, ergänzt Neumärker.

Dieser „Einwanderung ins Sozialsystem“ ließe sich auch entgegenwirken, indem in Europa flächendeckend ein Bedingungsloses Grundeinkommen einführt. Neumärker hat für dieses Szenario ebenfalls ein Modell entworfen, das er Euro-Dividende nennt. „Die Bürger tolerieren die Öffnung der Märkte, die Integration der Europäischen Union“, führt er aus. Aus diesen Vorteilen, den Gewinnen des Freihandels, lasse sich eine Steuer abschöpfen. Das bedeutet laut Neumärker: „250 Euro on top auf alle nationalen Sozialversicherungssysteme.“

Simulation zeigt gewünschtes System

Mit Student:innen hat Neumärker zudem seit dem Jahr 2010 Sozialvertragsexperimente durchgeführt. „Sie wissen in der Simulation nicht, wer sie sind und werden gefragt, welches Sozial- und Umverteilungssystem sie wollen“, erklärt er. Hier beobachte er immer wieder, dass die Teilnehmer:innen eine Marktwirtschaft bevorzugten. Bevor sie jedoch die individuellen Risiken dieser wüssten, sprächen sie sich für eine bedingungslose Grundsicherung aus. Neumärker ist begeistert:

Das ist das BGE in einer kapitalistischen Marktwirtschaft!
Bernhard Neumärker

Werner Stickler, ehemals Community-Manager der Plattform „Utopia“ und als solcher ein alter Hase rund ums Thema Gesellschaftsutopien, hält das BGE grundsätzlich für interessant: „Es kommt drauf an, welche Art von BGE.“ Als großen Vorteil des BGE sehe er „vor allem Vertrauensgewinn: Ich brauche keine Angst um meine Existenz zu haben und mit weniger Angst folge ich eher nicht Gruppierungen, die von der Angst leben. Die Möglichkeit, sich die Arbeit aussuchen zu können, das Leben gestalten zu können, wird aktivere, engagiertere Menschen hervorbringen, die Probleme lösen wollen. Sowas hilft dann sehr in wirtschaftlichen Krisen.“

BGE als neue Grundsicherung

Er spricht sich für ein BGE aus, das die Grundsicherung – also das Arbeitslosengeld I und II sowie die Mindestrente – ablöst. Davon sollte jedoch die Krankenversicherung ausgenommen sein: „Genauso Zuschüsse, die für verschiedene Beeinträchtigungen gewährt werden.“ Gleichzeitig sieht Stickler die Gefahr, dass dadurch Mietpreise steigen könnten, wenn Vermieter:innen das BGE beispielsweise einkalkulierten, denn: „Die Leute haben das Geld ja“. Hier bräuchte es vermutlich flankierende Maßnahmen.

Ähnlich wie Neumärker hält Stickler das häufige Gegenargument, dass niemand mehr arbeiten würde, für nicht haltbar: „Der Großteil der Menschen will anerkannt werden, für das was sie tun. Arbeit füllt die Zeit, für viele gibt sie auch Sinn.“ Es könne allerdings zu einer Verschiebung führen, dass etwa in weniger attraktiven Tätigkeitsfeldern wie der Müllabfuhr mehr Menschen in Teilzeit arbeiten würden. Gleichzeitig sei es möglich, dass sich dadurch mehr Menschen in solchen Bereichen engagieren: „Zehn Stunden in der Woche kann ich das auch. Nachher eine gründliche Dusche und alles ist wieder gut.“

Neuer Wert für die Arbeit

Generell gelte: „Es macht auch Spaß, etwas zu schaffen. Solidarische Landwirtschaften, Stadtgärten, offene Werkstätten werden viel Zulauf bekommen. Daraus entstehen neue Produkte, vielleicht Kleinunternehmen, bedarfsorientierte Verkaufsnetzwerke.“ Wer nicht arbeiten müsse, arbeite gerne. Das Wort „Arbeit“ bekomme mit der Zeit wieder einen anderen Klang: etwas voranbringen, umsetzen.

Auch Programme wie das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) könnten dadurch größeren Zulauf erhalten, vermutet Stickler: „Das hilft der Gemeinschaft und stärkt das Solidaritätsgefühl.“ Sogar für konservative Menschen sieht der BGE-Vordenker ein realisierbares Konzept. Wie das aussehen könnte? „Jugendliche werden gleich auf das System BGE umgestellt und machen das FSJ nach der Schule oder eine Ausbildung und vor dem Studium. Erwachsene, die umstellen, müssten dafür allerdings erst kündigen. Damit das vermieden werden kann, könnte ein Tag pro Woche gemeinnützig gearbeitet werden.“ In fünf Jahren sei das FSJ dann auch beisammen. In der Zeit könnten sie wie die jungen Menschen das BGE beziehen.

Die Refinanzierung mitgedacht

Tatsächlich bedingungslos soll das BGE laut Prof. Dr. rer. pol. habil. Ute Luise Fischer sein. Sie ist seit 2010 Professorin für Politik- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund und hat die Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ mitbegründet und fördert den Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens in Vorträgen und Publikationen. 2004 veröffentlichte sie gemeinsam mit dem 2017 verstorbenen Helmut Pelzer mit „Bedingungsloses Grundeinkommen für alle“ einen Vorschlag zur Gestaltung und Finanzierung der Zukunft unserer sozialen Sicherung.

Sie erläutert: „In meiner Idee des Grundeinkommens denke ich die Refinanzierung immer mit.“ Daher verkompliziere die aktuelle (Krisen-)Situation die Debatte über ein Bedingungsloses Grundeinkommens: „Das Argument, man sollte es nur den Bedürftigen zahlen, wird jetzt noch drastischer. Das ist natürlich auch ein bisschen schade.“ Gleichzeitig freue sie die Aufmerksamkeit, die die Idee erhalte: „Es sind viel mehr Unterschriften als noch vor ein paar Jahren bei ähnlichen Petitionen.“ Auch beobachte sie, dass der Begriff bekannter werde: „Man verbindet irgendwas damit – und zwar was Richtigeres, als oft im politischen Diskurs der letzten Jahre.“ Häufig sei der Begriff falsch verwendet worden, das sei dieses Mal besser. Die Petitionen formulierten alle ganz klar bedingungslose Auszahlungen an alle, das bleibe nahe an der Idee. Was sie damit meint, erklärt sie ausführlich im Video:

Doch was macht das BGE für sie aus? „Eines, was nicht temporär, sondern dauerhaft bezahlt wird. Eins, das bedingungslos ist, wie der Name sagt. Das bedeutet insbesondere, dass keine Bedürftigkeitsprüfung gemacht wird. Dass Bedürftigkeit überhaupt gar kein Kriterium ist.“ Allein das Wort „Bedürftigkeit“ hält Fischer für diskriminierend. Wichtig sei auch, dass keine Gegenleistungen gefordert werden: „Das sind die zentralen Aspekte: entkoppelt von jeder Art von Vorleistung und es wird individuell ausbezahlt.“ Wichtig sei auch eine gewisse Mindesthöhe, die über dem Existenzminimum liege, das das Bundesverfassungsgericht jährlich für den Steuerfreibetrag festlegt, „damit es die Entscheidung wirklich ermöglicht, ob und wie viel man erwerbstätig verdienen mag.“ Nur so ermögliche das BGE Teilhabe, wie es auch Neumärker fordert.

Was die Auszahlung angeht, sei erst einmal jede:r berechtigt, der oder die in Deutschland lebt, also ohne die Einbeziehung von Alter oder Staatsangehörigkeit. „Trotzdem finde ich, dass man darüber nachdenken darf, ob man es erst ab 16 zahlt oder bis 14 nur ein halbes“, erklärt Fischer. Da sie bereits durchgerechnet habe, wie das BGE finanziert werden könne, wisse sie, wie viel teurer es werde, wenn man es tatsächlich jedem einzelnen Bewohner und jeder einzelnen Bewohnerin des Landes ausbezahle: „Wir haben damals mit 82 Millionen gerechnet.“

Skepsis in Krisenzeiten

Bei den konkreten Zahlen zur Finanzierung eines BGE beobachtet Fischer vor allem in Krisenzeiten große Skepsis. Schließlich bedeuten sie weitere Ausgaben. Doch halte sie die zur Prävention bereits in besseren Zeiten sinnvoll: „Wenn der Staat bereits ein Grundeinkommen hat und dann kommt eine Krise, dann ist er gut gewappnet. Es ist wie ein Immunsystem bei Krisen. Es stabilisiert die Bevölkerung.“ Überhaupt würde sie sich freuen, wenn die Petitionen Erfolg hätten, denn: „Wenn man sich entscheiden würde, das mal eine Zeit lang zu zahlen, dann würden wir die positive Wirkung erkennen. Die können wir ja nicht erkennen, wenn wir es nicht ausprobieren.“

Warum Fischer denkt, dass das BGE bisher nicht eingeführt worden ist?

„Ich benutze ganz bewusst den Schuldbegriff, denn wir sind hier ja in so einer Schulddebatte“, erläutert sie. Die Frage sei: Wer darf denn Geld bekommen, einfach so vom Staat? Denn beim Grundeinkommen gelte ganz radikal: Jede:r soll es bekommen. „Jetzt in der Krise haben wir alle vor Augen, die ohne eigenes Zutun kein Einkommen mehr haben.“ Und da herrsche große Einigkeit: „Den armen Leuten soll man doch bitte helfen.“ Sie lacht und sagt: „Das ist so eine Grundlagengerechtigkeitsvorstellung.“ Dann erklärt sie: „Das ist aber nicht die, die wir fürs Grundeinkommen in Anspruch nehmen.“ Die Art Gerechtigkeit, die die Grundlage für das Grundeinkommen bilde, finde sich im Grundgesetz. „Würdevolles Leben soll der Staat jedem gewähren“, fasst sie zusammen und betont: „Das ist ein völlig anderer Gerechtigkeitsbegriff. Das ist viel radikaler.“ Daher sehe sie an der aktuellen Debatte auch die Gefahr, dass dieser Aspekt angesichts der aktuellen Situation zu wenig diskutiert werde.

Zwei Missverständnisse

„Wir haben hartnäckig diesen Gerechtigkeitsbegriff, den finden Sie durch alle Parteien, dass der Staat nichts ohne Gegenleistung geben darf“, beschreibt sie. Zwei Missverständnisse sehe sie in dieser Idee:

  1. Das, was als Gegenleistung anerkannt wird, ist lediglich erwerbsmäßige Arbeitsleistung. Was hier nicht als Leistung anerkannt wird, sind etwa Fürsorgeleistungen oder allerlei Leistungen für das Gemeinwohl. Gegenleistung werde also immer verengt gesehen als Arbeitsbereitschaft für den Arbeitsmarkt.
  2. Das zweite Missverständnis sei noch viel gravierender: Die Argumentation über die Gegenleistung an sich ist schon analytisch falsch. Leistung auf Gegenleistung ist eine ökonomische Sicht auf Gerechtigkeit und in die Ökonomie gehört das Prinzip auch: Geld gegen Ware, Lohn gegen Arbeitskraft. Aber wenn wir von uns als Bürgerin oder Bürger reden, dann reden wir von uns als ganze Person. Da passt der Gerechtigkeitsbegriff eben nicht. Da geht es um ein solidarisches Verhältnis.

Die meisten sind sich auch noch einig, wenn jemand nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen, denen auch zu helfen. Doch auch das Grundeinkommen ist da viel radikaler. Und in manchen Bereichen haben wir das auch schon. So fremd ist uns das nicht. Wenn man etwa das Schulsystem betrachtet. Da muss niemand etwas zurückzahlen, nur weil er danach mit dem Schulabschluss nichts macht, was sich in Heller und Pfennig bezahlt macht.

Ute Fischer

Für das BGE macht Fischer jedoch eine Schwierigkeit aus: „Wenn wir es jetzt in der Krise einführen würden, käme es nicht ohne zusätzliche Konjunkturmaßnahmen aus, weil man sonst zu starke Umsatzeinbußen hätte.“ Aktuelle Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld beziehen sich auf das aktuelle Einkommen, das sei daher einfacher umzusetzen. „Das ist ja immer das Problem von kurzfristigen Sachen. Man kann ja nicht einfach kurzfristig seine Lebenshaltung ändern.“

Politikwissenschaftler: BGE löst keine Verteilungsprobleme

Einen ganz anderen Standpunkt zum BGE vertritt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Butterwegge, der bis 2016 an der Universität zu Köln gelehrt hat und zur Sozialstaatsentwicklung forscht. Gemeinsam mit Kuno Rinke hat er das Buch „Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell“ veröffentlicht. Er argumentiert, dass es insbesondere in Krisen darum gehe, Lebens-, Arbeits- und Einkommenssituationen zu berücksichtigen. „Der bestehende Sozialstaat beruht auf dem Bedarfsdeckungsprinzip, wonach jemand beispielsweise Wohngeld erhält, wenn die Miete hoch und der Lohn niedrig sind“, führt Butterwegge aus. Würden alle pauschal die gleichen Leistungen erhalten, könne von sozialer Gerechtigkeit keine Rede sein. Auch vorübergehend sieht er in einem BGE keine Lösung, „weil es keine (Verteilungs-)Probleme lösen, sondern höchstens neue schaffen würde“. Zumal es sich kaum finanzieren ließe.

Dass es eine Fülle an verschiedenen Konzepten für ein BGE gibt, bezeichnet Butterwegge als Stärke und Schwäche zugleich. Zwar könne sich jede:r ein passendes Modell raussuchen, doch gebe es dadurch kein gemeinsames Konzept, das eine soziale Bewegung erfolgreich vertreten könne. Aus den unterschiedlichen politischen Richtungen werde es teils sogar mit gegensätzlichen Zielsetzungen verfolgt.

Er selbst unterscheide daher zwischen neoliberalen und idealistischen BGE-Konzepten, die entweder ungerecht oder unrealistisch seien:

Während die Neoliberalen mit dem Grundeinkommen den bestehenden Sozialstaat zerschlagen wollen, glauben die Idealisten fälschlicherweise, es gäbe das Grundeinkommen quasi als Sahnehäubchen auf den fortbestehenden Sozialstaat obendrauf. Das ist schon wegen der enormen Kosten, die das Grundeinkommen verursachen würde, völlig illusorisch.
Christoph Butterwegge

Auch das Argument der Selbstbestimmung, das Neumärker anführt, teilt Butterwegge nicht. Als linker BGE-Kritiker denke er, dass die Menschen durchaus weiterarbeiten würden, da sie sich in der Gesellschaft nützlich machen wollten. Nur: „Dann würde der jetzt schon fast ein Viertel aller Beschäftigten umfassende Niedriglohnsektor noch breiter, weil die Unternehmer bei jeder Tarifverhandlung auf die Zahlungen des Staates verweisen würden.“ Dieser Niedriglohnsektor fördere bereits jetzt verschiedene Armutsformen.

Umverteilung des Privatreichtums

Um Armut und soziale Ungleichheit wirksam zu bekämpfen, benötige es daher eine Umverteilung des privaten Reichtums statt eines „Gießkannenprinzips“. Deshalb leiste das Bedingungslose Grundeinkommen keinen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. „Sehr viel sinnvoller wäre die Forderung nach einem deutlich höheren gesetzlichen Mindestlohn ohne Ausnahmen“, nennt Butterwegge einen alternativen Lösungsvorschlag.

Darüber hinaus spricht er sich für eine solidarische Bürger:innenversicherung aus, die an die Bismarck’sche Tradition eines überwiegend beitragsfinanzierten Sozialsicherungssystems anknüpfen soll. In diese Bürger:innenversicherung würde er „eine bedarfsorientierte Grundsicherung für sämtliche Wohnbürger:innen“ einschließen; armutsfest, repressionsfrei und ohne Sanktionen. Also ein Grundeinkommen – nur eben nicht bedingungslos.

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