Coronavirus in Frankreich: Eingesperrt in Gefängnissen
Die Zeit des Lockdowns mag von einigen als "Gefängnis" empfunden worden sein, aber laut dem Soziologen Jean Viard lief es in Frankreich besser als anderswo. Und in echten Gefängnissen bedeutete sie Freiheit, während andere unter einer doppelten Gefangenschaft gelitten haben.

Text, Fotos und Video: Selene Verri

Geschäfte geschlossen, keine Theater, keine Partys, keine Feiertage; keine Möglichkeit, die Lieben zu sehen, selbst wenn sie sterben; eine Bescheinigung zu unterzeichnen, wenn man rausgehen will – nicht länger als eine Stunde und nicht weiter weg als einen Kilometer von zu Hause, außer aus wichtigen Gründen. Und aus den Fenstern, der blauste Himmel aller Zeiten und nur ein paar Menschen, die wie Geister in einer postapokalyptisch ruhigen Stadt laufen. Fast zwei Monate lang, vom 17. März bis zum 11. Mai, verwandelte sich Frankreich, wie viele andere europäische Länder, in ein riesiges Gefängnis für alle. Für das französische Volk, ein Volk, das stolz auf seine demokratische Tradition ist, war es eine besondere Art von Schock, wie der Soziologe Jean Viard in seinem Buch „La page blanche“ (Die weiße Seite) erklärt: „Ein paar Monate vor der großen weltweiten Gefangenschaft, während alle die Situation in China beobachteten, dachte niemand ernsthaft an eine solche Umsetzung hier. Es war okay für eine Diktatur! Aber nicht für uns“, sagt er. „Dann standen wir mit beiden Füßen mitter in der Pandemie. Und ohne zu zögern, ohne eine wirkliche Debatte, wurde ganz Frankreich in eine entspannte Kopie des chinesischen totalitären Modells geworfen (…). Der Präsident ging seine Risiken ein, und das Volk folgte mit unglaublicher Unterwerfung. Gesundheit statt Freiheit! Wo waren die rastlosen Gallier hingegangen? Haben wir uns klug entschieden? Die Antwort werden wir natürlich nie wissen; aber wenn wir sehen, welchen psychologischen und wirtschaftlichen Schaden sie angerichtet hat, insbesondere für die Ärmsten und Schwächsten, dann ist die Frage voll von Bedeutung.“

Welcher Schaden? Nach Angaben von Wohltätigkeitsorganisationen hat die Gesundheitskrise eine Million Franzosen in die Armut getrieben, zusätzlich zu den 9,3 Millionen Menschen, die bereits unterhalb der finanziellen Armutsgrenze leben – 1.063 Euro pro Monat. Eine am 9. Oktober veröffentlichte Umfrage bestätigt, dass die Pandemie die sozialen Ungleichheiten verschärft hat.

In dem Moment, in dem es wirklich komisch wurde

"In Gones we trust" is a pun, because "Gone" in the Lyonnaise dialect means "child", but also "child of Lyon", so it is how the Lyonnaises call themselves.
Colette Vlérick ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Ursprünglich aus Paris, lebt sie seit 25 Jahren in der Bretagne. „Zu Beginn des Lockdowns“, erzählt sie uns, „habe ich nichts Besonderes erlebt: Das Wetter war in Ordnung, ich war schon ein paar Tage zuvor bei einem Freund mit einem sehr großen Garten eingezogen. Wir hatten Vorräte, also hatte ich keinen Grund, hinauszugehen. Ich wollte etwas Gartenarbeit machen und an meinem Laptop arbeiten. Aber! Plötzlich gab es diese Sache mit Genehmigungen, um rauszugehen. Was war das? Es war unmöglich, Brot zu bekommen, ohne ein Stück Papier zu drucken, auf dem ich mir selbst bescheinigte, dass ich das Recht hatte, aus dem Ort herauszukommen, an dem ich lebte, um Brot zu bekommen?“ Aber in dem Moment, in dem es wirklich komisch wurde, fährt sie fort, war, als sie von den Polizist:innen aus anderen Regionen hörte. „Sie hätten Knöllchen an Leute ausgestellt, die nicht verstanden, was ihnen passiert. Es gab Überwachungsdrohnen, im Stile eines Polizeistaats. Und einige Leute würden andere melden, weil sie das Gesetz nicht respektierten…“
Der ehemalige Bürgermeister von Lyon wird von lokalen Medien interviewt, es war kurz vor der zweiten Runde der Kommunalwahlen, die wegen COVID verschoben werden mussten.

Der ehemalige Bürgermeister von Lyon wird von lokalen Medien vor der zweiten Runde der Kommunalwahlen interviewt, die wegen Covid verschoben werden mussten.

Genau diese Erfahrung hat die Menschen in Frankreich dazu bewogen, an der Kompetenz ihrer Regierung zu zweifeln. Nachdem wir sein Buch gelesen hatten, haben wir Herrn Viard erreicht, um ihn nach den Folgen der Gesundheitskrise und dem Lockdown in Frankreich zu fragen. Und seine erste Antwort bezieht tatsächlich sich auf diesen Aspekt: „Es gab schon vorher einen Mangel an Vertrauen in den Staat, es war schon sehr stark, aber ich denke, es hat zugenommen. In gewisser Weise hat diese Erfahrung gezeigt, wie schwer und doch ineffektiv der Staat war, und ich denke, das ist sehr französisch.“

Ihm zufolge „war die die Zeit der Beschränkungen besonders für die Paare schwierig, die es nicht geschafft haben.“ Er hat einen Punkt. Camille Vilain lebt in Lyon und arbeitet an eine Universität an internationalen Projekte. Sie beschreibt ihr Leben in dieser Zeit mit einer gewissen Zuneigung:

„Zuerst sah ich die Außenwelt meist durch ein Fenster. Ich hatte nicht wirklich die Zeit und ich war auch nicht wirklich in der Stimmung, um rauszugehen. Ich delegierte die Einkäufe und Mahlzeiten an meinen Liebling. Er ist Kochlehrling und eher gesellig. Von einem Tag auf den anderen hörte für ihn alles auf: sein Restaurantpraktikum, seine Treffen mit Freund:innen in seinen Lieblingsbars. Er wusste nicht, ob seine Ausbildung fortgesetzt werden würde und ob er in in der Zukunft in diesem hart getroffenen Bereich arbeiten könnte. Und doch nahm er die Dinge mit Philosophie und Optimismus. Er setzte sich zum Ziel, die besten Produkte in der Nachbarschaft zu finden, um neue Rezepte zu üben. Als klar wurde, dass man das Fahrrad über den Kilometer oder die Stunde hinaus benutzen darf, suchte er Gemüse von einem Produzenten in der Region, der sein Restaurant belieferte. Er zog mich von meinen Bildschirmen, brachte mich zum Lachen, wandelte meine Momente der Schwerkraft in Perspektive, drängte mich, nach draußen zu gehen. Wie es vielen anderen passierte, hatten den gelegentlich Streit, aber es war ziemlich selten, vor allem weil wir beide ungeduldige Typen sind.“

Härtere Zeiten in Paris

In Paris, wo die Pandemie zuerst ankam, war die Situation vielleicht schwieriger, vor allem, wenn man eine Auswandererin wie Chiara Giangrande ist, eine Italienerin, die im biomedizinischen Bereich arbeitet, verheiratet und Mutter eines Babys, das, als die Sperrung begann, knapp 18 Monate alt war. Als Wissenschaftlerin verstand sie sofort: „Trotz der Bemühungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft, Konzepte wie Asymptomatizität, Ansteckungsgefahr, Schutzmaßnahmen zu erklären, hätte jede Aussage über Nacht als falsch erwiesen werden können.“ So wurde sie besessen davon, alles über Covid-19 herauszufinden. Aber, gibt sie zu: „Im Allgemeinen waren die französischen Medien sicherlich beruhigender als die italienischen Medien, mit weniger Fake News aus wissenschaftlicher Sicht. Die Behandlung von Covid-Fällen war ebenfalls weniger phobisch, die Allgemeinmediziner haben die weniger schweren Fälle behandelt.“ Sie räumt auch ein: „Die Pariser Sperrung war ziemlich weich. Ich wurde während oder nach dem Lockdown nie verhaftet. Ich denke, es war humaner als das, was viele meiner Bekannten in Italien erlebt haben, und die Kranken und die Menschen, die positiv getestet wurden, wurden nicht zu sehr stigmatisiert. Es war eine Gelegenheit, über Smart-Working, Elektrofahrräder und das Recht aller auf Gesundheit nachzudenken.“
Herr Viard stimmt zu: Er erinnert uns daran, dass 60-70 Prozent der Franz:ösinnen einen Garten haben, und unter denjenigen, bei denen es nicht so ist, ist ein Viertel von ihnen aufs Land gegangen. „Deshalb sollten wir nicht zu viel Wert auf ein Trauma legen“, sagt der Forschungsdirektor am CNRS: Der französische Lebensstil habe die Franzosen irgendwie „beschützt“. Natürlich gibt es ein Trauma, vor allem für die Schwächsten unter ihnen: „Wir werden eine Generation von Kindern haben, die durch den Tod völlig traumatisiert sind, und wir werden das jahrzehntelang bezahlen. Aber das ist nicht unbedingt französisch, es ist ein globales Problem. Deshalb würde ich sagen, dass dies dank der Lebensqualität in Frankreich, der Qualität des Wohnraums und so weiter, nicht das Land ist, in dem die Beschränkungen im Hinblick auf das tägliche Leben am schwierigsten waren.“
Aber es gibt Menschen, für die Freiheitsentzug sehr viel mehr zum Alltag gehört als für den einfachen Bürger:innen während des Lockdowns. Diese Menschen sind Gefängnisinsassen.
Gefängnisse sind Orte, die der Ausbreitung einer Epidemie besonders förderlich sind: Sie sind überfüllte Orte, und die sanitären Bedingungen sind oft erniedrigend, während die Vertreter:innen die ganze Zeit ein- und ausgehen, auf die Gefahr hin, mit dem Virus in Kontakt zu kommen. Aus diesem Grund reagierten die Strafvollzugsanstalten in ganz Europa schnell auf den Notfall.

Ein Wunderergebnis

„Mein Partner ist seit mehr als fünf Monaten inhaftiert. Aus verschiedenen Gründen konnte er seinen Anwalt immer noch nicht aufsuchen. Er ist vor allem deshalb demoralisiert. Dass Besuchszeiten gestrichen worden sind, hilft nicht weiter. Es gibt dort Vorfälle, ich höre es, wenn er mich anruft. Er ist ein sehr introvertierter Mensch und ich bin sehr besorgt.“ Dies ist die Aussage des Begleiters eines Gefangenen im Gefängnis von Toulouse, gesammelt von der französischen Sektion der Internationalen Gefängnisbeobachtungsstelle
In Frankreich bestand die erste Maßnahme der Gefängnisverwaltung am 18. März darin, die externen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, indem die Gespräche mit Familienangehörigen, aber auch Ausbildung, Freizeitaktivitäten und Transfers ausgesetzt wurden. Die Insassen beschwerten sich jedoch, dass sie nicht alle notwendigen Informationen erhielten. Dies führte zu Protesten in mehreren Gefängnissen, die glücklicherweise nicht lange dauerten und ohne schwere Schäden oder Opfer endeten.
Die zweite Maßnahme, die von Organisationen und Fachleuten nachdrücklich gefordert wurde, bestand darin, die Zahl der Inhaftierten so weit wie möglich zu reduzieren: Häftlinge mit einer Reststrafe von zwei Monaten oder weniger wurden freigelassen oder in den Hausarrest überstellt, und in einem Rundschreiben wurden die Gerichte aufgefordert, die Vollstreckung von Gefängnisstrafen zu verschieben.

Dies führte zu einem historischen Ergebnis: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten waren die französischen Gefängnisse nicht überfüllt. Dank dieser Maßnahmen verließen mehr als 13.500 von insgesamt 72.000 Menschen ihre Zellen innerhalb von zwei Monaten.

Aber diese Zahlen erzählen nicht die ganze Geschichte, erklärt Francois Bés von der Internationalen Gefängnisbeobachtungsstelle: „Nach den nationalen Statistiken haben wir ungefähr die gleiche Anzahl von Gefangenen wie die Zahl der Gefangenenplätze. Aber die Realität sieht ganz anders aus, da es Einrichtungen gibt, die bereits weniger überfüllt waren, und andere, die überfüllt geblieben sind. In Wirklichkeit gibt es also immer noch Einrichtungen, die 140 Prozent oder mehr ihrer Kapazität haben, und andere, die bei 80 Prozent liegen.“
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Organisationen und Fachleute in diesem Bereich sind der Ansicht, dass dies ein wichtiger erster Schritt ist, und richteten am 3. Juni einen offenen Briefan den Präsidenten der Republik, der von fast tausend Menschen unterzeichnet wurde und in dem sie darum baten, „dass dem Notfallmanagement eine echte Politik der Gefängnisdeflation folgt, die in der Lage ist, individuelle Inhaftierung und menschenwürdige Haftbedingungen zu sichern und die Freilassung derjenigen zu fördern, die freigelassen werden können oder müssen.“

Aber diese Zahlen erzählen nicht die ganze Geschichte, erklärt Francois Bés von der Internationalen Gefängnisbeobachtungsstelle: „Nach den nationalen Statistiken haben wir ungefähr die gleiche Anzahl von Gefangenen wie die Zahl der Gefangenenplätze. Aber die Realität sieht ganz anders aus, da es Einrichtungen gibt, die bereits weniger überfüllt waren, und andere, die überfüllt geblieben sind. In Wirklichkeit gibt es also immer noch Einrichtungen, die 140 Prozent oder mehr ihrer Kapazität haben, und andere, die bei 80 Prozent liegen.“

Doppelte Gefangenschaft

Diese Menschen lebten in doppelter Gefangenschaft und mit doppeltem Schmerz: keine Aktivität und kein Kontakt mit Außenstehenden, einschließlich ihrer Lieben. Alles, was übrig blieb, waren Hof-Zeit, in einigen Fällen mit verkürzerer Zeit und nur in kleinen Gruppen, und Zugang zum Telefon. Es wurden einige Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu entschärfen: Insassen erhielten einen Telefonkredit in Höhe von 40 Euro und freien Zugang zum Fernsehen – der in normalen Zeiten gemietet werden muss. Nicht genug für Bès, der glaubt, dass es möglich gewesen wäre, weitere, von anderen europäischen Ländern inspirierte Schritte zu unternehmen: Wie der Zugang zu Smartphones, die Gefangenen in Italien und Spanien gewährt werden, oder die Möglichkeit in Belgien, sich über Videokonferenzen an die Lieben zu wenden: „Die Gefängnisverwaltung in Frankreich hat uns gesagt, dass sie technisch nicht in der Lage ist, es zu tun oder anzubieten. Was die Frage der Mobiltelefone betrifft, so ist sie in Frankreich immer noch ein Tabu, auch wenn wir in einigen Gefängnissen wissen, dass die Wärter angewiesen wurden, die Gefangenen, die ein Mobiltelefon benutzten, nicht zu bestrafen.“

Eine Katastrophe abgewendet

Eines ist sicher: All diese Maßnahmen haben es geschafft, die Pandemie in den Gefängnissen unter Kontrolle zu halten. Am 3. Juni gab es nach Gefängnisangaben noch 66 Offiziere und 186 Häftlinge, die Covid-19 positiv getestet waren. Es ist jedoch nicht viel bekannt, erklärt Francois Bés: „Die von der Gefängnisverwaltung gemeldeten Zahlen sind recht schwankend, da das Screening nicht systematisch durchgeführt wurde. An einem Punkt identifizierte die Verwaltung etwa 100 Häftlinge, die positiv auf das Virus getestet wurden. Es gab infizierte Mitarbeiter:innen, Wachen und auch eine Menge Gesundheitspersonal. Aber wir haben keine wirklich präzisen und zuverlässigen Statistiken.“

Die Rückkehr zur Normalität

Am 11. Mai wurden die Gespräche mit Familienmitgliedern unter sehr strengen Maßnahmen wieder aufgenommen: Plexiglasabscheider, Masken … Viele klagen über zu strenge Vorgaben, wie die Freundin eines Häftlings im Gefängnis von Èpinal: „Ich habe gestern zum ersten Mal meinen Partner besucht. Seit Dezember sitzt er im Gefängnis. Es war ein schreckliches Gefühl, für uns beide. Wir mussten Masken tragen – das ist normal, ich verstehe die Sicherheitsmaßnahmen für seine Gesundheit voll und ganz. Aber ehrlich gesagt, was ich nicht verstehe, ist, wie nützlich eine Maske sein kann, wenn wir bereits durch eine Plexiglasplatte und eine Holzplatte getrennt sind, die bis zum Boden geht! Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, wir mussten laut sprechen, um uns zu hören, wir mussten Dinge wiederholen, es war wirklich unangenehm. Es war sehr laut.“
Unerträglich für einige, die beschlossen haben, weiterhin mit ihren Lieben am Telefon zu sprechen, anstatt sich unter solchen Bedingungen zu sehen. In der Zwischenzeit warten sie auf eine echte Rückkehr zur Normalität.