von Lena Reiner und Niklas Golitschek
“Frieden, Freiheit, Demokratie!”, skandieren die Menschen, die durch die Stuttgarter Innenstadt gehen. Mit Trillerpfeifen werden die Rufe laut, teils schrill untermalt; Form und Inhalt gehen hier weit auseinander. Die Menschen gehen zügig, biegen in eine kleine Straße ab, nutzen schmale Durchgänge durch Gebäude. Kurz darauf geraten sie in eine Polizeisperre. Der Demonstrationszug wird unterbrochen, Personalien aufgenommen, die Stimmung kurzzeitig aggressiv.
Es ist der 17. April, bundesweit finden unter dem Motto „Es reicht!“ Demonstrationen der Querdenken-Bewegung statt. In Stuttgart ist die Versammlung verboten. Abhalten lassen sich die Menschen nicht, die sich hier am Ursprungsort der Bewegung zusammenfinden.
Ein diverses Bild
Auf den ersten Blick gehören der Querdenken-Bewegung Menschen aller politischer Lager an; aller Altersschichten, Berufsgruppen und Lebenswirklichkeiten. Auf den zweiten Blick – und nach der Analyse durch Expert:innen – zeigt sich jedoch: Die Anhänger:innen der Bewegung verbindet mehr als die bloße Kritik an der Corona-Politik.
Beate Küpper, Mitautorin der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, sagt dazu: „Das ist das Interessante: Querdenken bringt auf den ersten Blick einen irren Mix an etablierten Bürger:innen und Esoteriker:innen und harten Rechtsextremen und durchgeknallten Verschwörungsleuten zusammen.” Gleichzeitig sieht sie verbindende Elemente wie etwa das Völkische, das sich teilweise sowohl in der anthroposophischen als auch der esoterischen Szene finde: „Die Idee des Sozialdarwinismus findet sich bei Querdenken stark bei Aufrufen: Wer sich nicht gut ernährt, verdient nicht, geschützt zu werden.” Auch habe sich in den Mitte-Studien gezeigt – „das ist belegbar“ – , dass ein Glaube an Verschwörungen häufig mit Antisemitismus oder Unterwanderungsvorstellungen durch den Islam korreliere.
Generalisierte politische Einstellungen, zugehörige Weltbilder und Zielgruppen damit verbundener Vorurteile
So schildert es auch Sebastian Lipp, der für „Allgäu rechtsaußen“ Teile der Bewegung dokumentiert: „Das ist halt vom Kopf bis zur Basis sehr ähnlich. Das ist nicht so, dass die Köpfe in eine Richtung ziehen, die die Leute gar nicht gehen wollen. Das nimmt sich im Prinzip nicht viel.”
Der Politikwissenschaftler Fabian Virchow und (Co-)Autor der Studie „Pandemie-Leugnung und extreme Rechte in Nordrhein-Westfalen” sieht ebenfalls Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, die er als Pandemieleugner:innen bezeichnet.
Ortswechsel nach Hamburg: Verfassungsfeindliche Symbole sind auf der genehmigten „Es reicht“-Demonstration am Rödingsmarkt nicht zu sehen. Auf der für 200 Menschen geöffneten Versammlungsfläche ergibt sich zunächst ein gelassenes Stimmungsbild: Ballermann-Atmosphäre mit Trötendröhnen aus den Lautsprechern, 80er Jahren Evergreens, dem Aufruf friedlich zu bleiben. Auf der anderen Seite stehen Pandemie-Leugnung rund um angeblich genmanipulierte Impfstoffe, an denen bis zu 30 Prozent der Alten sterben würden, und die Forderung und sich gegen den Staat aufzulehnen.
Beobachtung durch den Verfassungsschutz
Ende April hat der Verfassungsschutz angekündigt, bundesweit Teile der Querdenken-Bewegung mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten. Daraufhin hat sich die Hamburger Organisatorin, Selina Fullert, bei Querdenken 40 zurückgezogen.
Der gefährliche Teil
Lipp dazu: „Ganz harte Nazisachen gehen da inzwischen auch durch und werden nicht negativ kommentiert.“
Radikale Botschaften seien kein Einzelfall auf den Demonstrationen.
Virchow möchte sich nicht festlegen, ob Querdenken der rechtsextremen Szene dauerhaft Zulauf verschaffen könne, stellt aber „auf jeden Fall” eine Gewöhnung an rechtsradikale Äußerungen fest.
Bei seinen Besuchen auf Großdemonstrationen habe er vor allem beobachtet, versucht, die Atmosphäre zu erfassen und sich gefragt: „Stören sich die Leute daran, ob da Nazis rumlaufen?” Sein Fazit: „Bei den Demos in Berlin und Düsseldorf habe ich zwei „Nazis raus“-Transparente gesehen.” Allerdings sei hier unklar, wer mit Nazis gemeint sei und welche Abgrenzung vorgenommen werde. Richtet sich das gegen Rechtsextreme in den Reihen der Demonstrierenden – oder Vertreter:innen des Staates wie den Bundespräsidenten, der in den Publikationen der Bewegung schon mal als ‚Faschist‘ bezeichnet wird?
Wieso das so schwierig ist, begründet Lipp mit der willkürlichen Verwendung solcher Begriffe in den vergangenen Monaten: „Da wird dann gesagt: Wir sind die Antifaschisten. Da sieht man ganz oft, dass die Worte nichts mehr bedeuten oder dann relativiert wird, wenn rechtsradikale Inhalte geteilt werden. Dann wird relativiert, dass die Leute rechtsextrem sind.“ Das führe dazu, dass an Begrifflichkeiten so lange „herumgedoktert” werde, bis sie gar nichts mehr bedeuteten und ihre Anhänger das reininterpretieren können, was sie möchten: „Das beobachten wir ganz allgemein: Dass sämtliche Begrifflichkeiten ganz ihren Zusammenhang verlieren und Worthülsen sind, die so rausgeschossen werden, wie man sie gerade braucht.” Dadurch gehe die Grundlage für ein Gespräch verloren.
Querdenken und der Glaube von der Diktatur
In Hamburg drückt sich das auch in den Redebeiträgen aus. Dort wird offen und laut davon gesprochen, dass Deutschland nicht mehr demokratisch regiert würde. Bis auf Telegram würden alle Kanäle zensiert. Mehrfach heißt es, Hamburg sei keine „freie Hansestadt“ mehr. „Wir leben in einer Diktatur“, so der schockierte Tenor, der unwidersprochen bleibt. Wenige Minuten später zieht ein Tross die Straße entlang und grölt „Widerstand, Widerstand!“ – begleitet und beschützt von der Polizei.
In Stuttgart werden derweil Masken getragen, die heruntergerutscht an ein Hakenkreuz erinnern; ein schwarzes Coronavirus auf weißem Grund, rot gerahmt.
Demokratie heißt Verantwortung
Küpper äußert im Interview die Sorge, dass sich eine Art “Pegida-Versteher-Nummer“ entwickle: Die Menschen könnten zu schnell aus der Verantwortung entlassen werden. Sie führt aus:
Zu einer Demokratie gehört, dass, wenn ich als mündige:r Bürger:in ernstgenommen werden möchte, ich dann auch Verantwortung trage für das, was ich meine und tue.
Prof. Dr. Beate Küpper, Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen, Stellvertretende Leitung des Institutes SO.CON, Hochschule Niederrhein
Es sei dann zu einfach zu sagen: Die Menschen wissen es ja nicht besser. „Nein, da muss ich die Augen aufmachen. Und dann kann ich erkennen, neben was für einer Flagge ich da stehe und ich kann auch die Hardcore-Rechtsextremen auf den Querdenker-Demos sehen und dann muss man sich nicht hinstellen mit denen.”
Sie halte es zudem für zu einfach gedacht, hier nur Betroffene von den Maßnahmen sehen zu wollen: „Viele andere Menschen haben auch Stress und gehen da nicht mit. Man kann durchaus andere Dinge tun, als bei Querdenken mitzulaufen.” Da fange die Verantwortung an:
- • Mit wem mache ich mich da gemein?
- z• Vor welche Bühne stelle ich mich?
- • Wem gebe ich damit Aufmerksamkeit?
Die bisherigen Beobachtungen zeigten, dass dieser Aspekt von den Anwesenden eher heruntergespielt werde; die sich der Verantwortung nicht stellen wollen. „Hinzu kommt der Moment der Selbstaufwertung durch Inhalt: Für Frieden und Freiheit – bis hin zu: ‘Ich pappe mir den Judenstern an.’ Zynischer gehts kaum – sich selbst zum Opfer der schlimmsten Verbrechen machen und daraus Selbstgerechtigkeit und Egoismus ableiten, auf der Seite der Guten zu stehen”, ordnet Küpper ein.
Inszenierung als Opfer
Virchow schildert, dass er auf den Demonstrationen mehrfach solche gelben Sterne gesehen habe: „Da gibt es eine große Bandbreite, wie man sich inszeniert, auch historische Vergleiche mit Anne Frank oder Sophie Scholl.”
So wie auf einer verbotenen Demonstration in Weimar Anfang Mai, als sich Pandemieleugner:innen vor der Freiluftausstellung „Die Zeugen“ inszenierten, die Holocaustüberlebende zeigt.
Wichtig sei die Inszenierung als Opfer und das Narrativ:
Bemerkenswert sei für ihn gewesen, wie bei einer Demonstration in Berlin im Sommer 2020, als die Polizei die Bühne besetzt habe, die friedliche Stimmung in eine totale Aggressivität umgeschlagen sei. „Das ist unheimlich schnell gekippt”, hat Virchow beobachtet. Interessant sei bei den Teilnehmer:innen teilweise auch: „Sie glauben tatsächlich daran, dass sie in einer Diktatur leben.“ Als eine Gruppe behelmte Polizisten durch die Reihe ging, sei das Geraune losgegangen: „Jetzt wird hier gleich geschossen.“
Diskursverschiebung nach rechts
Lipp warnt deshalb davor, zu unterschätzen, was später von Querdenken übrigbleibe. Er nennt zum einen den enormen Erfahrungsschatz, wie sich viele Menschen zu bestimmten Themen mobilisieren ließen. Zum anderen würden sich die Strukturen der extremen Rechten und angedockten Gruppen festigen und ausweiten: „Insofern bleibt auch, wenn Querdenken scheitert, ein enormes Potenzial zurück, das die Rechtsextreme voranbringt.” Hinzu komme eine Diskursverschiebung hin zu Themen aus dem recht(sextrem)en und verschwörungsmythischen Spektrum, die bis in die Leitmedien vorgedrungen sei: „Die ist erstmal gemacht, das geht ja nicht einfach wieder weg.”
Virchow ist hier vorsichtiger. Er betont: „Auf den Querdenken-Demos konnten sich auch migrantische Menschen bewegen, das wäre bei reinen Nazi-Veranstaltungen nicht möglich.” Es gebe in Querdenken auch Widersprüche. Grob verallgemeinert gebe es Leute, die die Konfrontation mit der angeblichen Diktatur suchen und Nazis tolerieren. „Aber völkischer Nationalist zu werden, ist eine andere Nummer”, betont Virchow, ohne die Schnittstellen zu übersehen. Wie der Protest in den jeweiligen Regionen zusammengesetzt sei, müsste eigentlich erkundet werden: „Wir bräuchten eine flächendeckende Beobachtung, um hier verlässliche Aussagen zu treffen.”
Auf Stimmenfang im Querdenken-Umfeld
Küpper meint ebenfalls: „Wir haben beide Richtungen: Wie sich Normalbürger:innen reinsaugen lassen. Wir haben auch aktive, strategische Akteur:innen, die das gezielt nutzen und anheizen. Die Spuren legen, um einen reinzuziehen.” Die AfD etwa versuche ganz eindeutig, im Querdenken-Umfeld auf Stimmenfang zu gehen. Ob das letztlich Erfolg habe, müsse sich erst noch zeigen. In Meinungsumfragen liegt sie derzeit mit rund 11 Prozent unter den 12,6 Prozent der Bundestagswahl 2017.
Dass eine allgemeine Politikverdrossenheit zu Bewegungen wie Querdenken führe, hält Küpper dagegen für unwahrscheinlich. „Es gibt andere Wege, sich politisch zu beteiligen. Die Türen stehen offen.” Ähnlich wie bei Pegida lasse sich da zwar positiv formuliert sagen: Das sei ein Neuerwachen politischer Partizipation; neutral und rein deskriptiv betrachtet. Küpper schiebt jedoch hinterher: „Demokratie gibt uns mehr an Inhalt auf, was dazu gehört – nicht reine politische Betätigung. Diktatur anzustreben, ist auch politische Partizipation, aber nicht demokratisch. Man muss schon auch auf den Inhalt schauen: Wofür treten die Leute ein? Ein Gewinn für die Demokratie ist es nur, wenn auch der Inhalt demokratisch ist.”
Hindernis für demokratische Beteiligung
Beim Blick auf die Inhalte der Querdenken-Bewegung würde sie diesen demokratischen Aspekt klar verneinen. Denn das, was vielfach an Dingen von der Tribüne komme und an Plakaten hochgehalten werde – abseits von „Frieden, Freiheit, Demokratie!” wie in Stuttgart-, sei nicht besonders demokratisch und tue der Demokratie auch nicht gut. Im Gegenteil sehe sie dadurch ein Hindernis für demokratische Beteiligung: „Eine echte demokratische Auseinandersetzung über verschiedene Positionen wird damit verhindert.”