Warum sich Akademiker:innen in der Ukraine gezwungen sehen, ihr Land zu verlassen

Der Zusammenbruch der UdSSR hat Anfang der 1990er Jahre eine große Migrationsbewegung ausgelöst. Die Ukraine war davon besonders betroffen. Der Begriff „Brain Drain“ ist aufgrund einer großen Anzahl von Wissenschaftler:innen, Professor:innen und Intellektuellen, die versuchen, ihre Länder auf der Suche nach einem Land zu verlassen, in dem sie mit Würde und guter Entlohnung behandelt werden, sehr populär geworden. Laut dem Zentrum für Migrationspolitik am Europäischen Universitätsinstitut in Florenz„verließen zwischen 1998 und 2012 mehr als tausend Doktorand:innen und 200 Kandidat:innen der Wissenschaft die Ukraine“.

Und an dieser Situation hat sich nach fast 30 Jahren in der Ukraine nicht viel geändert: Der Lohn von Professor:innen, medizinisches Personal oder Menschen aus der Wissenschaft liegt immer noch in einem Bereich von 200 bis zu 400 US-Dollar für eine Professur an einem der begrenzten Universitätsplätze in einem Land sind, in dem die Preise von Jahr zu Jahr steigen.

22% der Lehrer:innen an Sekundar- und Berufsschulen und 43% der Hochschullehrer:innen und Forscher:innen bekundeten Interesse an einem Umzug ins Ausland für ein Studium, eine befristete Beschäftigung oder einen dauerhaften Aufenthalt. Das Interesse an Migration ist bei Doktorand:innen deutlich höher als bei ihren älteren Kollegen mit Lehrerfahrung: 45% der jungen Befragten berichteten von ernsthaften Überlegungen, in den nächsten zwölf Monaten ins Ausland zu migrieren. Die Hauptmotive für Migrationsabsichten und deren Umsetzung bei Lehrer:innen und Studierenden pädagogischer Einrichtungen waren die wirtschaftliche und die berufliche Entwicklung.

Im Jahr 2019 hat die ukrainische Gruppe „Rating“ die Migrationstendenzen zwischen allen Migrantengruppen (potenziell, aktuell, zurückgekehrt) untersucht. Unter den Motiven für die Ausreise wurde oft auch die Unzufriedenheit mit den Zukunftsaussichten und den allgemeinen Lebensbedingungen genannt, wobei 35% der Ukrainer:innen überlegen, das Land zu verlassen.

Dies ist die Geschichte eines intellektuellen Migranten aus der Ukraine, eines Geisteswissenschaftlers in Malta. Ein Doktorand, der ungrnannt bleiben will, da er Diskriminierung für seine Aussagen befürchtet. Er beleuchtet die Realitäten von „hochqualifizierten Migranten“, Anpassung an neue Bedingungen, Abhängigkeit von Autoritäten, Kämpfe und Erfolge mit Akzeptanz und Sozialisierung innerhalb der europäischen Gesellschaften.

Was waren die Hauptgründe, dass Sie sich entschieden haben, nach Arbeit außerhalb der Ukraine zu suchen?

Ich habe die Ukraine 1997 verlassen. Die Situation im Land unter dem damaligen Präsidenten Kutschma war eher deprimierend. Es ist interessant, dass sich auch fast 24 Jahre später die Gründe, warum ich gezwungen war zu gehen, nicht geändert haben und gleich geblieben sind. Es gibt keine Möglichkeit, sich im Beruf und – in meinem Fall – in Wissenschaft und Bildung vollständig zu verwirklichen. Als Professor:in oder Akademiker:in bekommen Sie ein sehr geringes Gehalt, das Ihnen im Grunde nur das Überleben ermöglicht. Hinzu kommt, dass der Respekt vor Wissenschaft und Professor:innen unter den Studierenden im Vergleich zu anderen Ländern gering ist.

Ich habe einen Abschluss an einer der besten Universitäten des Landes und als ich die Realitäten erkannt habe, habe ich mein Studium in Kanada und den USA fortgesetzt. Danach habe ich begonnen, nach Praktika und Arbeitsmöglichkeiten in Europa zu suchen. Ich habe in Belgien, den Niederlanden, Schottland gearbeitet und jetzt arbeite ich seit über 7 Jahren in Malta. Da ich keinen unbefristeten Vertrag hatte, bin ich alle zwei oder drei Jahre in die Ukraine zurückgekehrt. Ehrlich gesagt wäre ich bereit, in meinem Land zu bleiben, da ich gewillt bin, erworbenes Wissen zu teilen und neue Erfahrungen, die ich erworben habe, umzusetzen. Das war jedoch auch nicht wirklich gewollt.

Was sind die Realitäten des modernen „intellektuellen Migranten“?

First of all, the problem for all migrants, not only high skilled ones, is the lack of opportunities to get a permanent job. They are not often offered since short contracts give a possibility to terminate cooperation with a person immediately after a short project contract. Permanent contracts are financially more demanding for the employers. And short contracts are not stable. By the way, this happens not only with migrants from countries outside the European Union, but also with internal citizens of the EU and not only in the educational sphere. Secondly, acceptance and integration: In all European countries where I have been, the attitude towards migrants is often ambiguous at the household level. According to my observations, people reasonably understand that migrants are good for the economy of their country, since they need brains and hands to do the work that the locals often do not want to do or might lack. Yet, at the level of subconsciousness and beliefs, they reject it. I have experienced this, for example, during my work in Belgium. I worked in an open office with various employees where I had colleagues sitting on my right and left. They could communicate over my head in Dutch, without bothering to inform me or include in the conversation. They intentionally were speaking only in their language even though they were speaking perfect English and only rarely would say something to me. Even if you learn the language, what I have started doing, this wouldn’t change much. It was difficult to be accepted. I felt a different attitude only in the USA and Canada during my studies and internships, in countries that are in fact a “melting pot” built by emigrants. I think that these countries are the most favorable for migrants.
I always tried to find out about the host country where I was going. But still, if you describe the state of a migrant person, then for me it is often loneliness and the feeling that you are still a stranger, an “outsider”.

Doch jetzt haben Sie einen unbefristeten Vertrag.

Ja, jetzt mit 37 Jahren habe ich einen Vollzeitvertrag an der Universität von Malta bekommen. Es war wie ein Traum für mich.   In Malta werden Lehrer:innen sehr gut behandelt, ich wurde sowohl sozial als auch finanziell geschätzt. Die Einstellung zu mir ändert sich sofort, wenn ich in Malta sage, dass ich als Professor an einer Universität arbeite.  Das ist auf den Respekt vor der Akademie, den Professor:innenen und den Menschen der Wissenschaft in der maltesischen Gesellschaft zurückzuführen.  Aber leider ist die Einstellung der Menschen anders, wenn sie meine Position nicht kennen.

Sie meinen, wenn sie sehen, dass Sie ein Ausländer sind und in Malta arbeiten?

Ja. Auf der Straße oder in Unternehmen ist es offensichtlich, dass ich kein Einheimischer bin. Die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht eher verschlossen.   Das ist die Besonderheit dieses Landes. Wenn Sie zum Beispiel eine Bemerkung an einen Einheimischen machen, weil er oder sie Müll oder eine Zigarettenkippe auf den Asphalt wirft, dann wurde mir, als man sah, dass ich ein Ausländer bin, ein paar Mal gesagt: „Geh zurück in dein Land“, was mir persönlich mehrmals passiert ist. Im Allgemeinen kommt diese Reaktion auf Haushaltsebene daher, dass die Anwohner:innen Angst haben, ihre Arbeitsplätze an Migrant:innen zu verlieren, obwohl Letztere sich oft nicht für Jobs bewerben, die bei Einheimischen gefragt sind. Es gibt auch die Angst, die Identität zu verlieren, wenn Migrant:innen aus anderen Kulturen kommen. Malta ist historisch ein sehr katholisches Land und das Aufkommen von Menschen anderer Religionen kann Angst vor Identitätsverlust verursachen.

Wie sehen Malteser:innen Migrant:innen?

Die Einstellungen gegenüber Migrant:innen sind hier recht gemischt. Auf der einen Seite gibt es einen wirtschaftlichen Boom, es gibt eine Entwicklung von Industrien und daher gibt es Arbeit.   Auf der anderen Seite arbeiten Migrant:innen oft ohne soziale Sicherheit, normale Arbeitsbedingungen, Krankenversicherung und so weiter. Es gibt hier eine sehr kompakte Gesellschaft, es sind Einheimische in Führungspositionen und Migrant:innenen werden zu Arbeitern. Aber das ist nicht nur ein Merkmal von Malta, die gleiche Situation herrscht zum Beispiel in anderen Ländern wie zum Beispiel in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Haben Sie seit Ihrem unbefristeten Vertrag noch einmal in der Ukraine gelebt? Wenn ja, wie sehen Sie die aktuelle Situation für die Wissenschaft?


I have been in Ukraine for two years since 2019 due to family and personal matters. Due to Covid and closed borders, I couldn’t come back to Malta right away. Thus, I have started to search for work options in Ukraine. My observations are that in Ukraine, the salary situation for academia is drastic. Because of financial reasons, my colleagues are often being forced to work in several jobs, have some kind of additional source of income, like a vegetable garden, or apartment rental. And the lack of finances are the reasons that sometimes people are forced to take bribes or presents. The official salary allows only to survive. I personally don’t want super salaries, only the one that would let me have just a normal life, not even the fancy one. I want to be able to go to a café and order a coffee, to go to the sea in the summer and skiing in the winter. I want to have a family and give children the opportunity to have a good life. I also have elderly parents whom I would like to help. I do not crave for luxury, but simply a normal life earned by my hard work. Unfortunately, in my field, since 1997, nothing has changed in terms of wages. I can even say that it got worse. Prices for everything have increased and if wages have increased by a little, it is not proportional to the increased expenses. Just as an example, I pay less for commodities and food in Malta than in Ukraine with the salary that is more than 5 times higher. I was offered some teaching possibilities, yet the payment was very small. I would actually love to stay in Ukraine further on in my life, but the situation that I have outlined does not allow me to do that. Yet people are forced to search better options not only because of finances in academia and sciences. For instance, my uncle, really good chemist, left Ukraine in 1993, because he couldn’t do any work in his beloved field. As a humanitarian I don’t need any equipment, or machines to work in science. He, on other hand, was in need of good equipment, chemical substances etc. He could work for free; it wasn’t about money for him. He breathed chemistry. Thus, he moved to Paris and worked till retirement in the field.

Sie haben die Grenzschließungen im Zuge der Coronavirus-Pandemie erwähnt. Wie hat sich das Coronavirus auf die Möglichkeit der Arbeitsmigration ausgewirkt? Wie ist die Situation jetzt in der Ukraine?

Das Coronavirus hat in der Tat die Reisemöglichkeiten in andere Länder beschränkt, nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Arbeit. Bis zum 19. August dieses Jahres, als die Europäische Kommission Länder wie die Ukraine in die „Covid-Pässe“ für geimpfte Menschen aufgenommen hat, war es mir unmöglich, zum Beispiel für Arbeit oder Aufenthalt nach Malta zu gehen. Aber ich kann Malta meine Anerkennung aussprechen, dass mir schon am nächsten Tag nach der Entscheidung der Europäischen Kommission die Möglichkeit zur Einreise bestätigt wurde. Ich verstehe die Gründe für die Schließung der Grenzen, da die Länder versucht haben, die Belastung ihrer Gesundheitssysteme zu verringern, aber das war natürlich der Grund, warum ich in der Ukraine gelandet bin und nicht nach Malta zurückkehren konnte.

Was halten Sie von den europäischen Gesetzen zur Migration?

Meiner Meinung nach ist das europäische Recht im Moment sehr loyal gegenüber Migrant:innen, insbesondere gegenüber legalen. Aber es gibt Tendenzen zu einer Verschärfung der Situation.   Meiner Meinung nach ist Deutschland das loyalste Land für Migrant:innen, und deshalb neigen die meisten von ihnen dazu, dorthin zu gehen. Doch für diejenigen, die sich an die Rechtsstaatlichkeit knüpfen, ist manchmal alles viel schwieriger als für diejenigen, die einige der europäischen Möglichkeiten für illegale Einwanderung nutzen.

Geschrieben von:

Natalie Gryvnyak

September 26, 2021

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