von Jana Cavojska
Veronka, Pavlinka, Andrejka, Simonka, Denis, Kerem, Misko, Renko und Nikolas bereiten Sandwiches zu. Sie sollen Brotscheiben mit Butter streichen und mit Salami und Käse belegen.
Kinderhände arbeiten konsequent und dabei berechnen sie im Kopf Matheaufgaben. Wie viele Scheiben Brot braucht es für elf Sandwiches? Wie viele Salamischeiben für eines? Wie viele zusammen? Dasselbe mit Käse. Sie können so viele Aufgaben mit Sandwiches erfinden. Addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren. Wenn die Sandwiches fertig sind, beenden die Schüler auch den Mathekurs.
Kinder aus der abgeschiedenen Roma-Siedlung Rubanka in Muranska Dlha Luka berechnen mit Brotscheiben viel schwierigere Aufgaben als Zweitklässler:innen. Auf diese Weise unterrichtet Monika Podolinska in ihrer Klasse.
Begrenztes Vokabular
Roma-Kinder aus armen Gemeinden hatten es in der Schule bereits vor Beginn der Coronavirus-Pandemie schwer. Ihre einfachen Häuser bieten kaum Platz oder Ruhe für Hausaufgaben. Viele Familien leben ohne Strom und verfügen über kein fließendes Wasser. „Meistens sprechen sie zu Hause die Sprache Romani“, erklärt Monika Podolinska. „Deshalb sprechen Kinder nicht richtig Slowakisch, wenn sie in die Schule kommen. Auch ihr Vokabular ist begrenzt.“
Der Grund dafür ist einfach, dass sie noch nie viele Dinge gesehen haben, die für die meisten Kinder selbstverständlich sind. Buntstifte. Hotel. Zug. Schloss. Kinderzimmer. Restaurant. Dschungel. Museum. Quadrat. Universum. Eltern aus armen Roma-Siedlungen bringen ihren Kindern eher praktische Dinge bei: Holz schneiden, kochen, sich um jüngere Geschwister kümmern.
Monika erkannte, dass ihren Schüler:innen vor allem Erfahrungen fehlen. Und vielleicht Frühstück. Wenn die Sandwiches fertig sind, isst sie sie zusammen mit ihren Schüler:innen. Beim Essen sprechen sie über die Welt. Die Kinder haben viele Fragen. Sie essen und merken nicht einmal, dass sie lernen.
Kochen und Lernen
Monika kocht gerne mit ihren Schülern.
Durch Kochen können Kinder nicht nur neue Wörter auf slowakisch lernen, sondern halten sich auch an Hygieneregeln, zählen oder stellen ein Budget zusammen. Die Schüler:innen bauen Gemüse neben dem Schulgebäude an und kümmern sich um die Pflanzen.
Im Herbst bereiten sie Sauerkraut zu. Vor Weihnachten machen sie Würstchen und kochen eine traditionelle Weihnachtskohlsuppe mit Würstchen.
Mit ihren Schülern reist Monika oft in die nächste Stadt, Revuca. „Wir besuchen das Museum, die Galerie oder das Restaurant.“ Es ist ungewöhnlich für Roma-Familien, Ausflüge zu unternehmen. Manchmal bringt Monika ihre Kinder zu ihrem Haus oder zu ihrer Mutter, die im achten Stock eines Hochhauses wohnt, sodass sie einen Aufzug benutzen müssen – was für die Kinder eine weitere neue Erfahrung ist. Und an ihrem Geburtstag lädt Monika das Kind und dessen Mutter zu Kaffee und Kuchen in ein Kaffeehaus ein. Für viele Roma-Kinder ist es einer der seltenen Momente, in denen sie ihre Mutter für sich alleine haben.
Homeschooling ohne Strom
Anfang April kehrten die Schüler:innen nach fast drei Monaten in die Schule zurück. Wegen der Coronavirus-Pandemie mussten Schulen in der Slowakei geschlossen werden, einige Schüler:innen sind fast ein Jahr lang zuhause gewesen. Als Monikas Schule in Muranska Dlha Luka geschlossen wurde, erkannte sie, dass Fernunterricht per Internet unmöglich sein wird, weil einige ihrer Schüler nicht einmal Strom haben. Deshalb bereitete sie Aufgaben vor und verteilte sie an die Familien. Später begann sie, die Kinder zu Hause zu besuchen. „Es war schön, Mütter bereiteten mir oft das Frühstück oder Mittagessen zu. Aber dann infizierten sich mehrere Leute aus der Siedlung mit dem Coronavirus, sodass ich die Hausbesuche abbrechen musste.“ Sie kaufte ihnen Smartphones und blieb mit ihren Schüler:innen telefonisch in Kontakt.
Jetzt ist die Situation mit Corona besser in Rubanka und es ist möglich, Familien wie die von Pavlinka zu besuchen. Sie leben in einem einfachen, kleinen behelfsmäßig gebauten Haus mit zwei Zimmern und ohne Strom. Wie die ganze Siedlung ist auch ihr Haus ist auf illegalem Land gebaut: Das grundsätzliche Problem von Roma-Siedlungen in der Slowakei.
Nicht nur Pavlinka, sondern auch ihr Bruder Ivan und ihre vierjährige Schwester Nelinka interessieren sich für die Schulbücher. Monika erklärt, wie man arbeitet. Nach einer kurzen Einführung liest und schreibt Pavlinka. Weil es in der Küche ohne Strom dunkel ist, beleuchtet Monika das Buch mit ihrem Smartphone. Bildung unter diesen Umständen erhalten – damit hat Pavlinka mehr Privilegien als viele andere Kinder in der Slowakei.
Laut einer Studie des Instituts für Bildungspolitik haben 128.000 Kinder während der Pandemie keinen Zugang zu entfernter Online-Fernunterricht. Das sind 18,5% der Schüler:innen in Grund- und Sekundarschulen. 52.000 von ihnen bekamen nicht einmal Aufgaben. Eine weitere Untersuchung der Organisation Eduroma ergab, dass 70% der Kinder aus abgeschiedenen Roma-Gemeinschaften während der ersten Pandemiewelle keinen Zugang zu irgendeiner Form von Bildung hatten.
Ein Relikt der Bergbauzeit
Wenige verfallene Backsteinhäuser sind von einfachen behelfsmäßig gebauten Hütten umgeben, die aus verschiedenen Materialien gebaut wurden: Holz, Kunststoff, Spanplatten. Es gibt viel Müll. Wer heizen oder kochen will, braucht ein Feuer.
Für Wasser gibt es eine Wasserpumpe. Für siebenhundert Menschen.
Mit elektronischen Pre-Paid-Chips können sie Wasser von 9 bis 15 Uhr holen. Wer keinen Chip hat, muss zu einem Fluss in der Nähe gehen, um Wasser zu bekommen. Und Strom? Gibt es seit Monaten nicht mehr.
Als sich das Coronavirus in Rudnany ausbreitete, erlaubte Bürgermeister Rastislav Neuvirth den Menschen, sich kostenlos Wasser zu holen. Diese Verbesserung der Hygienestandards sollte dazu beitragen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Abstand halten unmöglich
Zwei lokale Roma-Frauen, Darina Pacanova und Helena Dunkova, die in einem Projekt der Vereinigung für Kultur, Bildung und Kommunikation (ACEC) aktiv sind, desinfizieren jeden Morgen gründlich die Wasserpumpe. Danach bilden die Bewohner:innen der Siedlung an der Wasserpumpe mit Eimern in den Händen eine Schlange. Mitglieder der örtlichen Roma-Patrouille versuchen, ihnen zu erklären, Abstand zu halten. Doch das ist nahezu unmöglich.
- Die Menschen tragen zwar textile Gesichtsmasken – nur: Wie können sie diese in kaltem Wasser und per Hand richtig waschen?
- Wie können sie sich regelmäßig die Hände waschen, wenn sie kein fließendes Wasser haben?
- Wie können sie den Abstand in überfüllten Hütten einhalten?
An diesem Ort ist es kaum möglich, die Hygienemaßnahmen gegen Covid-19 umzusetzen.
Darina und Helena geben nicht auf. Sie erklären, fragen, brüllen. Fordern, sich an die Regeln zu halten. Als eine Gruppe von Männern, die in Tschechien arbeiten war – illegal und ohne die verpflichtende Isolation zurückkehrte -, rief Helena die Polizei, um die Siedlung zu schützen; später benötigte sie Polizeischutz, da ihre wütenden Nachbar:innen sie angreifen wollten. Sie habe sich gegen die Gemeinschaft gestellt.
Die „Babice“ von Zabijanec
Darina und Helena sind Hebammen. In altmodischer slowakischer Sprache „babice“. Sie erhielten eine spezielle Ausbildung im ACEC-Projekt und können nun den Frauen helfen zu gebären, wenn sie es nicht ins Krankenhaus schaffen. Sie belehren auch Schwangere über das richtige Leben und zeigen jungen Müttern, wie man sich um ein Baby kümmert. Da viele Roma aus Zabijanec nicht richtig Slowakisch sprechen, ist es Darina, die einen Krankenwagen ruft, wenn es ein Problem gibt.
Sie besitzt auch das einzige Thermometer in Zabijanec. Damit ist sie die Einzige, die Fieber messen kann.
Ich bin hier in Zabijanec geboren und liebe es, bei der Arbeit für eine Gemeinschaft aktiv zu sein. Nach langen Jahren ehrenamtlicher Arbeit wurde ich als Stellvertreterin in den Gemeinderat von Rudnany gewählt. Und als „babica“, eine Hebamme, habe ich bereits drei Babys geholfen, auf die Welt zu kommen, da der Krankenwagen zu spät kam.
Unter den schlechten hygienischen Bedingungen von Zabijanec kann sich das Coronavirus leicht ausbreiten. In einem Haushalt sind manchmal zwölf Personen wie Sardinen gepackt. „Mädchen haben im Alter von sechzehn Jahren Kinder. Drei oder vier Generationen leben dann in einem Raum“, sagt Darina. Ihre eigenen Söhne sind nach England gegangen: „Die Stadt ist schön und den Leuten ist egal, ob deine Haut weiß oder dunkel ist. Es gibt auch Arbeitsplätze für Roma.“ Darina und ihr Mann lebten und arbeiteten dort mehrere Jahre, mussten aber zurückkehren, als er gesundheitliche Probleme hatte.
Besseres Leben in kommunistischen Zeiten
Darina und Helena sind in ihren Fünfzigern. Sie erinnern sich noch an den Kommunismus, als alle Menschen einen Job hatten. Damals habe die Roma-Gemeinschaft aus Zabijanec ein besseres Leben gehabt, sagen sie. „Die Menschen meiner Generation erinnern sich noch an die normale Zeit. Ich kann sie besser als die jüngere Generation verstehen“, erklärt Darina.
Fast alle Erwachsenen aus Zabijanec sind arbeitslos. Aber jeder tut etwas. Frauen bringen Wasser, kochen, waschen Kleidung und hängen frisch gewaschene Kleidung an langen Seilen direkt neben den rauchenden Heizöfen auf. Männer tragen Holz, hacken es, bauen Wände für neue Hütten, waschen Teppiche, reparieren Dächer… Es ist schwer zu glauben, dass ein Kind, das an diesem Ort geboren wird, die gleichen Chancen hat wie das Kind, das in einer gutbürgerliche Umgebung geboren wurde.
Und jetzt, während der Pandemie, ist die Ungleichheit noch schlimmer. Online-Fernunterricht? Ein anderes Universum. Wenn irgendwelche Papiere zu den Schüler gelangen, wer wird ihnen helfen, zu lernen? Ihre Eltern, die meist nur wenige Jahre die Grundschule besucht haben, sind dazu kaum in der Lage.
Fokus auf Bildung
Darina sagt offen, dass sie nur die Grundschule abgeschlossen hat. Ihr erstes Kind kam, als sie sechzehn war. „Ich wollte so sehr Schneiderin werden. Aber es gab niemanden, der mich unterstützt hat. Meine Eltern waren Bauern. Sie hielten Bildung nicht für wichtig.“ Nun sagt Darina den Mädchen immer, nicht zu früh schwanger zu werden. „Man sollte sich auf Bildung konzentrieren und nicht mit einer frühen Schwangerschaft die Zukunft zerstören“, erklärt sie ihnen.
Martina Kralovicova arbeitet als Krankenschwester auf der Kinder-Intensivstation im Krankenhaus in Spisska Nova Ves. Einmal hörte sie den Vater einer jungen Patientin sagen, dass er als Steuerzahler nicht ertragen könne, dass Roma die Krankenhausbetten besetzten. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass sich eine Roma-Krankenschwester um Ihre Tochter kümmert“, sagte sie zu ihm.
Sie hat sich an solche Kommentare gewöhnt. Es begann an einer medizinischen Schule. Sie war die einzige Roma dort. Andererseits: Als sie anfing, im Krankenhaus zu arbeiten, warfen andere Roma ihr manchmal vor, wie ein „Gadzo“ zu leben. Das bedeutet „weiß“.
Diskriminierung von Roma in Hrabusice
Viele Roma-Familien in Hrabusice, wo Martina lebt, haben ein gutes Leben. Sie können schöne neue Häuser bauen. Aber es gibt ein Problem: Niemand will ihnen ein Grundstück im Dorf verkaufen. Direkt auf dem Hügel hinter dem Dorf, wo die Siedlung ist. Niemand will einen Roma als Nachbarn haben.
Pasta, Mehl, Linsen, Tomatenpüree, Erdbeerkonserven. Einfache Lebensmittelpakete sind eine große Hilfe für Roma, die in der getrennten Siedlung in Kojatice leben. Zweihundert Männer, Frauen und Kinder versuchen, die Pandemie so gut wie möglich zu überleben. Aber wie können sie die Hygienevorschriften befolgen, wenn sie Wasser aus dem Fluss im Wald holen?
Maria Lichvarova, Sozialarbeiterin von Menschen in Peril, einer NGO, die in abgeschiedenen Roma-Gemeinschaften arbeitet, verteilt nicht nur Lebensmittel und Hygieneartikel, sondern auch Hausaufgaben für Schulkinder. Sie sammelt die aus der vergangenen Woche ein und bringt sie zu den Lehrer:innen.
Einfache Jobs, niedriges Einkommen
Die Coronavirus-Pandemie erwischte Roma-Gemeinschaften in ihren einfachen Hütten ohne Wasser und Strom. Nur eine Familie hat Internet. Die meisten Häuser wurden auf illegalem Land gebaut. Es gab ein Projekt für den Bau billiger Häuser in Roma-Siedlungen. Die Interessent:innen sparten ein Jahr lang Geld und bekamen dann einen Kredit von einer Sozialbank und bauten ihre eigenen Häuser für 12.000 Euro.
In Kojatice schloss sich eine Familie an. „Wie kann eine Familie mit einem monatlichen Einkommen von 108 Euro das Geld zusammensparen“, fragt Maria. Wie in Zabijanec sind die meisten Erwachsenen aus Kojatice arbeitslos. Sie leben von Sozialleistungen von 64 Euro pro Erwachsenem und 20 Euro pro Kind. Sie erledigen einfache Reinigungsarbeiten für die Gemeinde und bekommen weitere 60 Euro dafür. Familien aus Kojatice leben in einer solchen Armut, dass es ist schwer ist zu glauben, dass das Europa im 21. Jahrhundert sein soll.
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