Text, Fotos und Videos: Lena Reiner und Niklas Golitschek
Cornelia Dürkhäuser konnte diese Nachricht kaum fassen. Eigentlich verbringt sie mindestens eine 39 Stunden-Arbeitswoche auf der Intensivstation eines Krankenhauses bei Dresden. Inmitten der Coronavirus-Pandemie – am 15. April – wurde sie dennoch in Kurzarbeit geschickt; auf 20-Stunden-Basis. „Mitgeteilt wurde uns das zirka eine Woche vorher. Ich war ziemlich fassungslos, wütend auch“, schildert sie und fährt fort: „Wie kann es sein, dass im Zuge des Corona-Managements Kapazitäten leer stehen, Behandlungen nicht durchgeführt werden, Personal wegen Arbeitsmangels in Kurzarbeit geschickt wird, weil es – man verzeihe mir den Ausdruck – nicht genügend schwer kranke Corona-Patienten gibt?“
Es sei ja an sich eine gute Sache, dass in Deutschland deutlich weniger Menschen schwer an Covid-19 erkrankten als angenommen. Gleichzeitig halte sie es für wichtig, die Kapazitäten schnell wieder für andere Behandlungen freizugeben.
Ob Intensivplätze besser koordiniert, also eventuell bundesweit umverteilt werden könnten? „Wenn man will, geht bekanntlich Vieles“, antwortet die Medizinerin, schränkt jedoch ein: „Allerdings ist das mit einem hohen logistischen Aufwand verbunden: Man transportiert Intensivpatienten nicht mit einem beliebigen Krankenwagen.“ Außerdem berge der Transport selbstverständlich Risiken für die Patienten:innen.
Auch deshalb wartet Cornelia Dürkhäuser darauf, wieder regulär im Krankenhaus zu arbeiten. Die Entwicklung im Gesundheitswesen in Deutschland empfinde sie als „sehr absurd“, sagt Dürkhäuser: „Bis vor vier Wochen hätte ich nie erwartet, dass mir einmal Kurzarbeit droht. Im Gegenteil ist das Arbeitspensum seit Beginn meiner Tätigkeit kontinuierlich gestiegen.“ Einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems, der wegen des Coronavirus medial häufig thematisiert werde, sieht sie allerdings nicht. „Jedenfalls nicht flächendeckend und nicht durch Corona“, ergänzt sie. Wenn überhaupt, dann drohe dieser Kollaps bereits seit Jahren durch Personalpolitik und Sparzwang.
„Es besteht keine Notwendigkeit, Kurzarbeit anzumelden.“ – Stellungnahme des Marbuger Bundes:
„Aus unseren Mitgliederumfragen wissen wir, dass im Krankenhaus angestellte Ärztinnen und Ärzte pro Jahr etwa 65 Mio. Überstunden leisten. Ein Ausgleich in Freizeit in Absprache mit den Kollegen ist bei geringerem Arbeitsaufkommen sicher sinnvoller als die Beantragung von Kurzarbeit“, erklärt der Bundesverband des Marburger Bundes in einer Stellungnahme und weiter: „Überall dort, wo das Patientenaufkommen derzeit geringer ist, kommt es darauf an, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schulen und für die Behandlung von COVID-19-Patienten zu trainieren.“ Auch die Bundesregierung habe in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag erklärt, Kurzarbeit sei „zur Sicherung der Liquidität des Krankenhauses nicht erforderlich“. So erhalten Krankenhäuser über den Krankenhaus-Rettungsschirm 560 Euro pro nicht belegtem Bett und Tag als Pauschale, der Rettungsschirm enthalte außerdem Ausgleichszahlungen für Personalkosten. Darauf verweise auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft.
„Den wendet man nicht mit Applaus und einmaligen Bonuszahlungen ab“, betont sie. Es seien grundlegend bessere Arbeitsbedingungen und eine dauerhaft angemessene Bezahlung notwendig. Außerdem müsse die Bevölkerung von der Anspruchshaltung wegkommen, „wegen eines eingezogenen Holzspans, nachts um 3 in der Notaufnahme behandelt zu werden.“ Leider seien solche Fälle dort inzwischen die Regel, die eigentlich gar nichts in einer Notaufnahme verloren hätten.
Mehr als die Kurzarbeit beschäftigen Dürkhäuser jedoch öffentliche Missverständnisse über medizinische Vorgänge, gerade die Diskussionen um das Coronavirus. „Es gibt viele Dinge im normalen Arbeitsalltag eines Intensivmediziners, die die Normalbevölkerung nicht kennt, die jetzt aber plötzlich öffentlich kommuniziert und völlig falsch interpretiert werden.“ Als Beispiel nennt sie die Triage: Die komme zum Einsatz, wenn die Anzahl Erkrankter oder Verletzter die räumlich und zeitlich vorhandenen Behandlungskapazitäten übersteige: „Das gilt für einen Flugzeugabsturz, eine Naturkatastrophe und eben auch für eine Infektionskrankheit.“ Dargestellt werde das als „die Ärzte lassen die Patienten einfach sterben“. Dabei handle es sich gerade bei Palliation und Sterbebegleitung um ein aufwändiges intensivmedizinisches Verfahren.
Teilweise sehe die Medizinerin ihren Berufsstand diskreditiert und sich mit ungerechtfertigten Vorwürfen konfrontiert. „Das erschwert auch unseren Arbeitsalltag“, betont Dürkhäuser.
Entscheidungen zur Coronavirus-Eindämmung nicht nachvollziehbar
Intensivpflegerin Kathrin Seif ist außerklinisch aktiv und spricht noch andere Aspekte an: „Der Umgang mit der Pandemie war überstürzt und nicht transparent genug, um politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Es wurden eine Ausgangssperre erlassen, nach Wochen der Pandemie eine umstrittene Maskenpflicht eingeführt, bei Nichtbeachtung Strafen verhängt.“ Für die Maßnahmen, um das Coronavirus in Deutschland einzudämmen, fehlten in der Öffentlichkeit die schlüssigen Begründungen. Statt Erklärungen seitens der Politik beobachtet sie eine Informationsflut, die bei vielen Menschen Panik auslöse: „Es ist momentan Vieles für jeden Einzelnen nicht verständlich oder erklärbar.“
Als Fachfrau wolle sie betonen, dass man eine Krankheit wie diese zwar nicht unterschätzen dürfe, aber auch kein Grund zur „Panikmache“ bestehe. Auch wenn teilweise die Schutzmasken knapp geworden seien und länger getragen würden als üblich, seien die Hygienemaßnahmen doch durchweg verhältnismäßig gut umsetzbar gewesen. „Wir haben in der Vergangenheit schon andere Epidemien bewältigen können. Deutschland ist im Gesundheitswesen sehr gut aufgestellt. Unsere Fachkräfte werden im Ausland für ihren Umgang mit dem Virus sogar bewundert.“
„Knallhart gesagt“, sei der Politik erst durch die Pandemie bewusst geworden, welche Arbeit medizinisches Personal in Deutschland tagtäglich leiste. „Unser Beruf, egal ob Arzt oder Pflegekraft, steht jetzt auf einmal im Rampenlicht“, schildert Seif. So viel Anerkennung wie heute hätten sie zuvor nie bekommen, auch wenn sie sich diese lange gewünscht hatten. „Seit so vielen Jahren kämpfen wir um mehr Personal, mehr Gehalt und mehr gerechtfertigte Anerkennung“, schildert sie. Leider seien Bonuszahlungen bislang lediglich angekündigt worden, da unklar sei, wer das Geld letztlich bezahlen werde. „Somit bekommt jetzt nur Bayern sicher eine Prämie.“
Unterstützung für die Nachbarn
Deutschland ist bisher verhältnismäßig gut durch die Wochen der Pandemie gekommen. Und das, obwohl die Regierung deutlich mäßigere Kontaktbeschränkungen verordnet hat als die Nachbarländer. Dennoch waren die Intensivbetten zu keinem Zeitpunkt voll ausgelastet. Teilweise nahmen die Krankenhäuser deshalb Covid-19-Patient:innen aus Frankreich oder Italien auf.
Einig im Shutdown, uneinig in der Lockerung
Während in Deutschland über den Shutdown bis auf Details in der Ausgestaltung Einigkeit herrschte, waren sich die 16 Bundesländer über die Lockerungen der Einschränkungen uneinig. Im föderalen System haben sie weitreichende Kompetenzen, um selbst darüber zu entscheiden. Geeinigt haben sie sich darauf, dass in den Landkreisen und Städten ab 50 bestätigten Neuinfizierungen pro 100.000 Einwohner und pro Woche wieder striktere Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Berlin (30) und Niedersachsen (30-35) setzten allerdings eigene, strengere Obergrenzen. Derweil dürfen die Profiligen im Fußball ab Mitte Mai ihre Saison zu Ende spielen sollen.
Doch wann und wie etwa Gastronomie- und Tourismusbetriebe; Kindergärten, Schulen oder Kultureinrichtungen öffnen, handhaben sie unterschiedlich – und zur Überraschung der betroffenen Branchen auch teilweise kurzfristig, genaue Regelungen zu den Infektionsschutzmaßnahmen bei Wiedereröffnung folgen manchmal erst am Vortag. Politiker*innen argumentieren, dass so regional und der aktuellen Situation um das Coronavirus entsprechend die sinnvollsten Schritte eingeleitet werden könnten.
Verwirrende Regeln
Diese bundesweit verschiedenen Regelungen führten an einigen Stellen zu Verwirrung bei den Betroffenen. In Bremen, das als Stadtstaat komplett von Niedersachsen umgeben ist, mussten beispielsweise die Restaurants eine Woche länger geschlossen bleiben als in den umliegenden Städten und Gemeinden. Niedersachsen wiederum sprach in der Ankündigung von einer Reservierungspflicht – die dann allerdings nur eine Empfehlung war. „Wir wissen selber nicht, welche Öffnungszeiten gelten. Anfangs hieß es bis 22 Uhr, dann Open End“, sagte ein Gastronom. Kultureinrichtungen und Freibäder erklärten bundesweit, sie wüssten nicht, wie sie die strengen Vorgaben umsetzen sollten.
Gerichtsurteile
Mehrere der Einschränkungen haben Gerichte in Deutschland inzwischen für rechtswidrig erklärt. Das Oberverwaltungsgericht in Sachsen etwa kippte etwa die 800 Quadratmeter-Grenze für den Einzelhandel. Das Oberverwaltungsgericht in Niedersachsen setzte die Quarantänepflicht für Reisende aus dem Ausland aus. In Bayern hob der Verwaltungsgerichtshof de facto die Ausgangssperre – selbst die Benutzung eines Motorboots gilt als triftiger Grund, die Wohnung zu verlassen – auf und unterband Bußgelder für Verstöße gegen das Kontaktverbot.
Größtes Hilfspaket der Geschichte
Mit dem größten Hilfspaket in der Geschichte Deutschlands unterstützt die Bundesregierung Unternehmen und Selbstständige: Den Umfang der haushaltswirksamen Maßnahmen beziffert das Bundesfinanzministerium auf insgesamt 353,3 Milliarden Euro, hinzu kommen 819,7 Milliarden Euro an Garantien. Solo-Selbständige können zudem in einem vereinfachten Verfahren Sozialhilfe beantragen und Unternehmen für ihre Beschäftigten Kurzarbeit anmelden. Gleichzeitig ist eine Debatte darum entflammt, inwieweit Unternehmen unterstützt werden sollen, deren Betrieb schädlich für die Umwelt ist.
Mehr als schwarzweiß
Auch Intensivpflegerin Marie Krzykalla beobachtet Fehlinterpretationen medizinischer Verfahren durch die Darstellung in den (sozialen) Medien und tauscht sich darüber mit ihren Kolleg:innen aus: „Dass Medizin da so schwarzweiß dargestellt wird, das stört uns einfach sehr.“ Als Extrembeispiel nennt sie eine Überschrift in der Bild-Zeitung: „Menschen sterben am Beatmungsgerät“. „Grundsätzlich stimmt das ja auch, sie sterben am Beatmungsgerät. Nur sterben sie eben nicht wegen des Beatmungsgeräts, sondern trotz des Beatmungsgeräts“, kommentiert Krzykalla. Inzwischen habe sich gezeigt, dass die Mehrheit derer, die im Verlauf einer Covid-19-Erkrankung ein Beatmungsgerät benötigten, es lediglich übergangsweise benötigten.
In der Angst vor Beatmungsgeräten sieht Krzykalla eine Gefahr: „Vielleicht kommen Menschen mit Symptomen, die, je eher sie behandelt würden, desto weniger invasive Behandlungsmethoden erfordern würden, aus Angst viel später zum Arzt oder ins Krankenhaus; das ist ein gefährlicher Drehtüreffekt.“
Im Video schildert sie, wie es durch das Coronavirus derzeit auf ihrer Station zugeht und wie Beatmung funktioniert:
Bisher hat das Gesundheitssystem in Deutschland der Coronavirus-Pandemie standgehalten. Das ist neben den Kontaktbeschränkungen vor allem den Pflegekräften und ihrem enormen Einsatz zu verdanken. Krzykalla arbeitet seit zwei Jahren als Intensivpflegerin auf einer Schwerpunktstation für Lungenerkrankungen und sieht so mit eigenen Augen, was Covid-19 bedeutet. Auf Facebook hat sie jüngst ihre Erfahrungen geteilt und für einen Beitrag viel Zuspruch von Kollegen erhalten. Allerdings rief er auch Verschwörungstheoretiker auf den Plan. „Ich setze den Post mittlerweile nachts auch auf privat, damit ich mir keine Sorgen machen muss, wer da nachts was überrennt“, verrät sie.
Deshalb komme einer verständlichen Aufklärung zum Coronavirus eine große Bedeutung zu. Krzykalla nennt den Podcast des Virologen Christian Drosten als Positivbeispiel, wobei seine Sprache manchmal „schon sehr medizinisch“ sei. Sie wünsche sich ein Format, das noch einfacheres Vokabular verwende. Sie wisse jedoch, wie schwierig Covid-19 zu erklären sei: „Du kannst den Leuten schlecht vermitteln, es gibt keine einheitlichen Symptome, keinen einheitlichen Verlauf und auch kein universelles Medikament.“
Auf die Frage, wie sie denn angesichts ihrer Erfahrungen mit Covid-19 zu den aktuellen Debatten um die Lockerung infektionsschützender Maßnahmen stehe, betont sie: „Ich fände es wichtig, dass den Menschen viel genauer erklärt wird, wieso die jeweilige Maßnahme überhaupt eingeführt wurde.“
Kontaktbeschränkungen wegen Coronavirus zusätzliche Belastung
Auch die 31-jährige Altenpflegerin Laura Härer, die in Saulheim nahe Mainz in einer Seniorenresidenz arbeitet, hat bereits mit Covid-19-Erkrankten gearbeitet. Sie erlebt die Auswirkungen der Maßnahmen besonders stark. Für die Bewohner:innen des Heims sowie sich selbst empfindet sie die Kontaktbeschränkungen und Besuchsverbote als zusätzliche Herausforderung. „Es ist erstaunlich, welche Auswirkungen der Besuch von Angehörigen und Bekannten hat. Das war vorher nie in diesem Ausmaß sichtbar“, sagt sie.
Sei es das gemeinsame Essen, ein Spaziergang oder einfach ein Lächeln: „Sie vermitteln durch die täglichen Besuche Orientierung“, sagt Härer. Besonders wichtig sei dabei die körperliche Nähe: „Ein Kind kann einfach mit am besten Liebe und Nähe vermitteln.“ Doch durch die Besuchsverbote falle das weg und die Pflegekräfte müssten das möglichst kompensieren. Umso wichtiger sei, den Bewohner:innen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, verbunden mit einem erhöhten Aufwand und zunehmenden Dokumentationspflichten. Gleichzeitig erschwerten Schutzmasken und -kleidung – immerhin ausreichend vorhanden – den persönlichen Kontakt, sagt Härer: „Dadurch ist ein einfaches Lächeln gegenüber den Bewohnern nicht mehr möglich.“
Genauso sei die Situation für die Fachkräfte ungewohnt und noch schwieriger zu bewältigen, da die sozialen Kontakte weitgehend ruhen.
Privater Ausgleich ist wichtig und gerade bei den systemrelevanten Berufen steigt der Stresspegel.
Doch sei es eben derzeit nicht möglich, diesen Ausgleich in der Gesellschaft auszuleben.
Da helfe dann nur bedingt, wenn Menschen von ihren Balkonen aus applaudieren. Eine solche Anerkennung freue sie durchaus, bestätigt Härer. „Aber das löst nicht die tragischen Verhältnisse, die in unserer Branche herrschen“, merkt sie an. Nur deshalb würden Pflegekräfte als Helden betitelt, „weil es genug gibt, die unter teilweise schlimmen Bedingungen arbeiten für die Bewohner und aus Berufsehre“. Sie halte es für das Glück der Branche, dass die Fachkräfte in Notsituationen noch mehr an ihre Grenzen gingen.
Aktuell störe sie sich wie Seif vor allem an daran, dass jedes Bundesland anders mit der besonderen Belastung für die Pflegekräfte durch das Coronavirus umgehe. Hier versprochene Bonuszahlungen, dort bezahlte Mahlzeiten und dann Unterstützung vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). “Für mich ist es nicht einheitlich geregelt und das muss bundesweit geschehen“, sagt Härer. Um die Bedingungen langfristig zu verbessern, sollte ihrer Meinung die Finanzierung des Gesundheitssektors verändert werden: „Nur so kann und muss das Niveau angehoben werden.“ Darunter verstehe sie zum einen eine bessere Bezahlung sowie mehr Anerkennung für die Arbeit. Gleichzeitig müssten die Leistungen für die Betroffenen bezahlbar bleiben, Zusatzkosten dürften nicht steigen. Hier müssten sich Experten um Lösungen bemühen.
Rasante Entwicklung
Rettungssanitäter Andreas Durner schließt sich dieser Haltung ebenfalls an. „Die Entwicklung in den letzten Wochen war rasant“, sagt er. Durch neue Erkenntnisse seien in seiner Einrichtung regelmäßig Abläufe optimiert und geändert worden – das sei durchaus zu begrüßen. Genau deshalb bezeichnet er die Debatte um Lockerungen als wichtig und richtig, Vorgaben zu Abstand, Hygiene und Masken erachte er als sehr sinnvoll. Durner betont dabei:
Man sollte die Schritte aber gut durchdenken und nicht zu schnell handeln.
In dieser rasanten Zeit beschäftigt sich der Radiologe Prof. Dr. Götz Richter mit den Auswirkungen des Coronavirus im menschlichen Körper. Richter leitet das Zentrum für Diagnostik des Stuttgarter Katharinenhospitals, eine Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und hat von der Ethikkommission kürzlich eine Studie zu dem Thema genehmigt bekommen.
Mittlerweile habe sein Bereich analysieren können, wie das Virus die Lungen schädige, sagt Richter: „Vereinfacht kann man sagen, dem Virus ist das Patientenalter dann ‚egal‘, wenn es in der Lunge angekommen ist.“ Seine Klinik habe bereits früh festgestellt, dass auch junge Menschen am Virus sterben könnten. Anhand von Daten der Infizierten befasst sich ein interdisziplinäres Team nun mit den möglichen Langzeitfolgen verschiedener Altersgruppen.
Forschung in den Kinderstiefeln
Während Politik und Gesellschaft sich vorrangig über Lockerungen und Maßnahmen unterhalten, steckt die Forschung zum Coronavirus noch in den Kinderstiefeln. „Zur Langzeitproblematik kennen wir momentan nur das, was vor 15 Jahre aus der SARS-Pandemie bekannt wurde.“ Dazu gehören etwa dauerhafte, schwerwiegende Lungenschäden, „das war und ist erschreckend“, betont Richter. Deshalb sei gute Wissenschaft ebenso wichtig wie abgestufte und vorsichtige Lockerungen der Kontaktbeschränkungen.
Um die Situation fachlich bewerten zu können, brauche es Untersuchungen. „Ganz grundsätzlich sind Prävalenzstudien ein extrem wichtiger Baustein in der Pandemiebewertung und für ganz viele Entscheidungen von fundamentaler Bedeutung“, sagt Richter. Trotz der Kritik an der Heinsberg-Studie lässt diese für ihn doch eine Schlussfolgerung zu, sollte sich die mehrfach angenommene Letalität von knapp 0,4 Prozent Bestand haben; also die Sterberate unter den Infizierten.
Basierend auf der Theorie für eine Herdenimmunität mit 50 Millionen Infizierten in Deutschland wäre mit etwa 200.000 Toten zu rechnen, „die davor aber unter Umständen 3 Wochen auf Intensivstation verbringen“, merkt Richter an. Das ist allerdings nicht der einzige Grund, warum Richter das nicht praktikabel erscheint:
„Selbst, wenn dies auf ein ganzes Jahr gestreckt werden könnte, bräche das System zusammen. Damit muss sich die Politik auseinandersetzen.“
Obwohl die wissenschaftlichen Debatten in den vergangenen Wochen überwiegend von den Virologen Drosten, Kekule und Streeck gestaltet wurden, spricht Richter von einem medial ausgeglichenen Diskurs. „Viele werden gehört, dadurch ist es auch vielstimmig, was für Laien nicht immer leicht durchschaubar ist“, sagt er – dabei kämen durchaus verschiedene Fachrichtungen zu Wort.
Doch genauso wichtig wie die Vielfalt in der Berichterstattung sei, dass Wissenschaftler ihre Erkenntnisse so verständlich wie möglich erklärten. „Kein Wissenschaftler kann erwarten, dass Medienvertreter oder der ‚Normalbürger‘ wissenschaftlichen Kauderwelsch verstehen“, sagt Richter.
Kommunikation muss stattfinden
Ähnlich sieht das die Sozial- und Wirtschaftspsychologin Prof. Dr. Anja Achtziger von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen: „Große Teile der Wissenschaft sind durch Steuergelder finanziert. Dann sollte die Bevölkerung auch sehen, was damit gemacht wird und wie die Gesellschaft davon profitiert.“ Gerade in Zeiten und bei Themen, in denen Menschen auf nicht belegte Verschwörungstheorien hereinfielen, sei parallel dazu eine qualitative Berichterstattung wichtig – verbunden mit einer objektiven und sachlichen Argumentation der Wissenschaft. Bei komplexen Zusammenhängen sei das nicht immer einfach. „Aber eine solche Kommunikation muss stattfinden, gerade in weitreichenden Krisen.“ Dabei müssten auch ungeklärte Fragen sowie mehrere Erklärungen für ein Phänomen offen angesprochen werden; dafür müsse dann auch die Bevölkerung Geduld und Verständnis aufbringen: „Manche Dinge brauchen einfach Zeit.“